Montag, 1. September 2008

Chasing Amy




Ein sympathischer Stalker will der dem Untergang geweihten Sängerin Amy Winehouse seine Aufwartung machen. Wenn das mal keine gute Idee für ein Drehbuch ist.


Am 9. Juli bricht der nicht mehr ganz so junge Mann - ausgestattet mit etwas Geld, einer Videokamera und einer guten Portion Flugangst - tatsächlich auf. Keiner hätte ihm das zugetraut, es wollte aber auch keiner mit. Und so hält ihm, der noch nie geflogen ist, niemand die Hand, als er im von Wolken bedeckten London landet (die Reise mit dem Zug hätte ihn 1200 Franken gekostet und das Budget deutlich überschritten).

Amy Winehouse wohnt in Camden Town, soviel ist klar. Doch bereits die Suche nach einer geeigneten Bleibe in der Nähe der Angebeteten erweist sich als mühselig. Die eine Unterkunft verlangt nach einer Kreditkarte, die andere für die Aussicht, einen Raum mit 14 weiteren Touristen teilen zu dürfen, happige 20 Pfund. Nach mehreren Anläufen wird der Reisende doch noch fündig und er begibt sich auf die Suche nach der von ihm so favorisierten Sängerin. Elf Tage will er sich dafür Zeit nehmen - entsprechend der Anzahl Songs, die sich auf dem Album „Back to Black“ befinden.

Tags darauf in den Strassen von Camden: Sein Blick fällt auf ein mit „Winehouse“ beschriftetes Gebäude. Es handelte sich offenbar um eine Weinhandlung, doch erscheint es ihm wie ein erster Fingerzeig. Später entdeckt er eine Galerie, die nicht nur Porträt von Amy, sondern auch freundliche Menschen beherbergt, mit denen er ins Gespräch kommt. Er klimpert auf dem Klavier, trinkt auf der Dachterrasse Bier. Er filmt die Fassaden der Strasse, in der sich das „Winehouse“ befindet. Nach zwanzig Metern dann plötzlich eine Tafel: „Tonight DJ Battle Amy Winehouse vs DJ Bioux“. Das Lokal heisst „Monarch“. Er geht hinein und fragt, ob es sich um einen Irrtum handle. Nein, Amy lege hier tatsächlich heute auf.

Er lernt Tom kennen. Tom ist gross, Anfang zwanzig, kleidet sich wie Pete Dorethy und kennt in Camden jeden. Natürlich kennt Tom auch Amy Winehouse, mit ihr hat er schon zusammengewohnt und auch den Abend im „Monarch“ organisiert. Unser Schweizer macht sich mit dem Verteilen von Parisiennes beliebt, „the best cigarettes in whole world“, wie die anwesenden Londoner anerkennend feststellen. Geraucht wird im Garten.

Schliesslich erhält er von Tom die Zusage, er könne sich ein Ticket, das sonst nur im Internet reserviert werden könne, für 12 Pfund an der Abendkasse abholen. Der Jungfilmer erforscht mit seiner Kamera das Innere des Pubs. Das DJ-Pult ist bereits aufgestellt, dahinter hängt eine riesige Union-Jack-Flagge. Er lässt sich in einer Ecke nieder, behält den Raum im Auge. Gegen neun Uhr füllt sich der Klub, etwas später dann plötzlich Lärm und Blitzgewitter von draussen. Ein Wagen fährt vor, und tatsächlich: Amy Winehouse betritt den Raum, gefolgt von einer Horde von Paparazzi. „Hi, Amy! Over here, Amy!“ Auch andere Besucher zücken jetzt ihre Handys und Kameras.

Amy begrüsst Tom, lässt sich einen Drink geben und begibt sich zum DJ-Pult. Sofort scharen sich die Fotografen um die Sängerin. Die gibt sich erst pflichtbewusst und wirft sich in Posen, erinnert sich dann aber wohl daran, dass vorteilhafte Bilder von ihr ohnehin nicht erscheinen werden - und beginnt gelangweilt Fratzen zu schneiden.

Nach einer Viertelstunde dann endlich Musik: „Love Cats“ von den Cures, Dexy Midnight Runners’ „Geno“, „A Message to You, Rudy” von den Specials. Dazu jede Menge Motown. Dass Amy Winehouse dabei nicht wirklich Platten auflegt, sondern ihren angekündigten Antagonisten lediglich mit musikalischem Material versorgt – die meiste Zeit kauert sie vor den Plattenkoffern -, ist den englischen Tabloids noch zwei Tage später eine Meldung wert. „The Sun“ hingegen delirierte von einem weissen Pulver, das sie angeblich unter Amys Nase gesichtet haben will. Unser Held weiss davon nichts zu berichten, räumt aber ein, dass die für ihren Drogenkonsum berüchtigte Künstlerin während ihres DJ-Sets „zwei- oder dreimal“ in einem Hinterraum verschwunden sei.

Aber für derlei hat der Hingerissene ohnehin keine Augen mehr: „Sie sah super sexy aus“, erzählt er. Pink das über dem Bauchnabel zugeknöpfte Hemd, sehr kurz die Shorts, sehr hoch die Frisur. Doch sein Problem ist ein anderes: So nahe würde er an seine Angehimmelte nicht mehr herankommen, er musste jetzt irgendetwas tun: Er drängt sich vor, nimmt mit Amy Augenkontakt auf. Im Haar trägt sie ein Herz, auf dem „Blake“ steht - stimmt, sie ist ja verheiratet. Womöglich hat er schon zu viel getrunken und überhaupt: Was macht er hier eigentlich? Seine Lippen formen die Worte „I love you“. Sie hats gesehen, bestimmt, dreht aber den Kopf zur Seite und plötzlich erscheint ihm das alles sinnlos. „I Will Never Be You Girl“ lautet der Titel des Songs, den er beim Verlassen des „Monarch“ noch hört.

Am nächsten Tag: Nüchterne Betrachtung des aufgenommenen Videomaterials. Irgendwann hatten Amys Bodyguards eine VIP-Kordel um das DJ-Pult gespannt und unserem Filmer die Drehgenehmigung entzogen. Doch der war nicht unschlau und stellte die laufende Kamera auf eine Auflage hinter einer Trennscheibe. „Und was mach ich Depp? Ich stell’ nach fünf Minuten eine Bierflasche vor die Scheibe!“ Zusätzlicher Frust also und die Stimmung wird beim Lesen der einschlägigen Zeitungen nicht besser. Von einem „bizarren Auftritt“ ist da die Rede, Amy Winehouse sei in der Nacht noch barfuss und mit zwei gestohlenen Lampen um die Häuser gezogen. „Sie hat halt die Schuhe ausgezogen, und die Lampen mitgenommen. Ich finde das nicht besonders schlimm“, meint der Fan, der im Übrigen nicht der Ansicht ist, dass Amy Winehouse schutzlos den Verlockungen ihres frühen Ruhms ausgesetzt ist. „Sie hat genügend Freunde, die sich um sie kümmern. Leute, die sie seit ihrer Jugend kennt.“

Leute wie Tom, bei dem es sich vermutlich um den Sohn eines bekannten BBC-Moderators handelt. Oder wie Collin, der einräumt, auch schon mal mit der Sängerin Kokain konsumiert zu haben. Reiche und weniger reiche, talentierte und weniger talentierte, schöne und weniger schöne junge Engländer, die nicht viel arbeiten und trotzdem immer genügend Geld haben, um sich das Leben der Londoner Bohème leisten zu können. Die Boulevard-Presse hingegen saugt die Szene ebenso aus, wie sie sie füttert. Kaum ein Tag, in der „The Sun“ nicht irgendeinen „engen Freund von Amy“ zitiert. Und ist gerade keiner zur Hand, bleibt da immer noch ihr Vater, der verzweifelt versucht, das voyeuristische Interesse, das die Medien dem Schicksal seiner Tochter entgegenbringen, in Richtung Verständnis, Rücksicht und Mitgefühl zu lenken. Mit lauem Erfolg, ist man gezwungen hinzufügen.

„Du bist also einer dieser Paparazzi“, schnauzte unser Schweizer einen der Fotografen vor dem „Monarch“ an. „Keineswegs“, entgegnete dieser. Er mache nur die Fotos, die Auswahl würden andere treffen. Heute hätte er von Amy etwa 200 Bilder geschossen. Nichts Aussergewöhnliches, die Sängerin wird täglich von einem ganzen Pulk von Fotografen verfolgt. „Einmal ist sie zu mir morgens um drei früh ins Geschäft gekommen und wollte Schokolade kaufen“, erzählt der Besitzer der Food Station an der Strassenecke. Sie hätte kein Geld dabei gehabt und einem der Fotografen zugerufen: „Bezahl das mal für mich!“ Bei Britney Spears ging diese Art von Intimität zwischen Kuh und Fliege so weit, dass sie sich sogar auf eine Beziehung mit einem ihrer anhänglichen Begleiter einliess.

Weshalb aber setzt sich jemand wie Amy Winehouse der ständigen Belästigung der Fotografen überhaupt aus? Schliesslich hat sie Millionen von CDs verkauft und könnte auf den Bahamas liegen, würde sie denn ein Einreisevisum erhalten. „Sie ist halt in Camden Town sozialisiert worden, ihr gefällt es hier“, weiss der Kenner. „Zudem hab ich das Gefühl, dass sie die Aufmerksamkeit braucht. Sie scheint mir ambivalent: Halb geniesst sie das Katz-und-Maus-Spiel mit den Paparazzi, halb ekelt es sie an.“

Camden ist in der Tat nicht uncool. Hier, wo sich einst die Hippie- und später die Punk- und Gothicszene formierte und sich Bon Scott die ultimative Kante gab, lässt es sich gut leben. Das unspektakuläre Häuschen von Winehouse zeugt darüber hinaus von einer eher existenzialistischen Lebenseinstellung der bald 25-Jährigen. Die Wahl ihres Lebenspartners hingegen von einem Hang zum Selbstzerstörerischen: Der Volksschulabbrecher Blake Fielder-Civil, den sie im Frühling 2007 heiratete, sitzt derzeit wegen Körperverletzung im Geföngnis und es deutet vieles darauf hin, dass sein Einfluss auf Amy nicht der allerbeste ist: Vor einem Jahr wurde die Sängerin mit einer Überdosis eines nicht zu empfehlenden Cocktails aus Heroin, Ecstasy, Kokain, Ketamin und Alkohol in eine Klinik eingeliefert. Ein Clip auf Youtube, der die beiden zusammen zeigt, wie sie im Bahnhof Paddington auf Gott weiss was warten, illustriert die fatale Beziehung. Hier der hühnenhafte Blake, dort die klapprige Amy, die sogleich in Panik ausbricht, als sich ihr Ehemann einige Meter von ihr entfernt - eine Amour fou, von der man noch viel hören und lesen wird.

Ganz ohne Geschenk will sich unser Protagonist dann doch nicht von Amy verabschieden. Beim planlosen Umherirren in Camdens Strasse stösst er auf eine Gruppe von Journalisten, die vor einem Hauseingang herumlungert. Kurz zuvor hatte es ihm in einer Kirche der heilige Michael angetan, ein Drachentöter vor dem Herrn. Ein Heiligenbild, eine Rose, eine Schachtel der besten Zigaretten der Welt und eine knappe Liebesbotschaft schnürt er zu einem Päckchen zusammen. „Some kind of Vodoo, I hope you don’t worry about it“, schreibt er dazu. Er will das Packet einem der Bodyguards geben, mit der Bitte, er solle es doch Amy zustecken. Dieser sagt, er könne es ihr gleich selber überreichen, die Sängerin werde gleich herauskommen. Nach einer Stunde fährt ein Wagen vor, doch von Amy ist nichts zu sehen. Die Limousine fährt wieder weg, die Paparazzi fluchen vor sich hin. Nur der Fan macht sich Vorwürfe. „Wahrscheinlich hat sich mich gesehen und sich deshalb nicht herausgetraut“, spekuliert er ebenso selbstkritisch wie grössenwahnsinnig.

Vielleicht zu viel der Ehre und vielleicht hat das Päckchen ja seine Adressatin doch noch erreicht. Unser Held jedenfalls beteuert, sich nach dieser zumindest zum Teil erfolgreicher Mission als besserer Mensch zu fühlen. „Das Leben“, so bemerkte Peter Handke einst klug, „schreibt bekanntlich die besten Geschichten - nur das es nicht schreiben kann.“

Filmen kann es aber eben auch nicht.