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Schon wieder zehn Jahre verhuscht. Was war 1998? Und was kam danach? Ein Inventar.
von Martin Söhnlein
1998 war kein schlechtes Jahr. Schon deshalb, weil in den Kinos „The Big Lebowski“ anlief und Mark Hollis sein erstes und einziges Soloalbum veröffentlichte. Ansonsten wartete man auf das nächste grosse Ding. Massive Attack verabschiedeten sich mit „Mezzanine“ vom Trip-Hop. Der Vorjahressieger „Ok Computer“ hallte noch in den Köpfen jener nach, die der Rockmusik über die schweren Technojahre hinweg die Treue gehalten hatten und nun zu „Sexy Boy“ mit den Füssen wippten. R.E.M. machten auf„Up“ schöne Musik, doch die war trotz Schlagzeugmaschine mehr Rück- als Ausblick. Überhaupt besann sich die Szene auf alte Werte und schloss neue Freundschaften. Elvis Costello liess sich auf Burt Bacharach, der Rest der Welt auf Easy Listening ein. Uncool war das neue Cool und The Blood Hound Gang der Soundtrack für alle Pubertätsgläubigen. Die Postrocker der Chicagoer Schuler coverten auf „Smiling Pets“ alte Beach-Boys-Songs. Auch so kann man tschüss sagen.
1999 gingen alle nach Kuba und allen anderen auf den Wecker. Norman Cook alias Fatboy Slim erhielt für das Video zu „Praise You“ einen Award, den eigentlich Spike Jonze verdient gehabt hätte. The Flaming Lips veröffentlichten „The Soft Bulletin“, Eminem seine „Slim Shady LP“, Pavement ihr letztes Album „Terror Twighlight“, Blumfeld „Ol’ Nobody“ und Prefab Sprout „Andromeda Heights“. Die Menschen schwankten zwischen Partylaune und Fin-du-siècle-Melancholie. Für ein paar Monate schien die Grenze zwischen Mainstream und Underground, zwischen Radio und Vierspur-Show aufgehoben. Schwarzgekleidete schworen zwar auf Godspeed You Black Emperor! (und Schlechtgekleidete auf Britney Spears); Baz Luhrmanns „Everybody’s Free (to Wear Sunscreen)“ oder „You Only Get What You Give“ der New Radicals aber taten über die Gräben hinweg Wahres kund und führten die englischen Charts an. Vielleicht aber wollte man das Jahr einfach nur möglichst schnell hinter sich bringen.
2000 freuten sich die Menschen, dass sie noch lebten. Auch A-ha, die mit einem feinen Pop-Album überraschten. Bei Coldplay („Parachute“) dachten einige ebenfalls an A-ha, was so falsch ja nicht ist. Madonna brachte den Pop zurück auf den Dancefloor und „Music“ sie in die Charts. Die Leute waren so gut drauf, dass sie Robbie Williams das mittelmässige „Sing When You’re Winning“ verziehen und er seither ein Superstar ist. Outkast („Stankonia“) waren aber besser. Goldfrapp („Felt Mountain“), Lambchop („Nixon“) und Phoenix („United“) auch. Sugababes waren auch super, doch es tat sich noch anderes: Das Feuilleton fühlte sich plötzlich nicht mehr über den „Metal Hammer“ erhaben und schrieb nun euphorischen AC/DC-Schwurbel. The White Stripes („The Stijl“) machten mit Vinyl-only-Releases, Queens of the Stone Age mit „Rated R“ von sich reden. Die Retro-Tendenz war nicht neu, neu hingegen war, dass sich die Öffentlichkeit nun offenbar der gefährlichsten aller nachtaktiven Musikrichtungen zu nähern getraute: Rock.
2001 brach das dunkle Zeitalter an. Das bescherte uns interessante Musik: Sigur Ròs („Agaetis Byriun“), The Strokes („Is This It?“), The Shins (“Oh, Inverted World”), Black Rebel Motor Cylce Club (Dito) und System of a Down (“Toxicity”). Bemerkenswert auch zwei Filme: Cameron Crowes „Almost Famous“, in dem sich Hollywood zum ersten Mal dem Thema Rockbusiness widmete, und Baz Luhrmanns „Moulin Rouge“, der Pop so behandelt, wie Pop behandelt werden will: als Volksgut. Getanzt wurde dann aber wieder zu Kylie Minogue („Can’t Get You Out of My Mind“) oder den Gorillaz („Clint Eastwood“). Der Ipod erblickte das Licht der Welt, Napster wurde zu Grabe getragen und die Skyline von New York erfuhr eine radikale Änderung. Am selben Tag erschien Bob Dylans „Love and Theft“. Auch Rufus Wainwright, P.J. Harvey, Tenacious D, Jay-Z, Missy Elliott und Björk wurden von der Kritik gefeiert. Blieben noch Steely Dan („Two Against Nature“), Air („10 000 Hz Legend“), Prefab Sprout (“The Gunman & Other Stories”), Daft Punk (“Discovery”) und „Zweilicht“, ein stimmungsvolles Album der Hamburger Band Kante.
2002 herrschte Krieg, und zwar ein präventiver. Der verqueren Logik ihres Präsidenten mochten sich nicht alle Amerikaner anschliessen. Der Boss legte seine Sicht zur Lage der Nation (Bruce Springsteen, „The Rising“) persönlich dar. Sogar R’n’B’ erschien dank der Neptunes (N.E.R.D., „In Search of…“) für kurze Zeit erträglich. Der Eskapismus, dem viele Menschen angesichts der deprimierenden Gesamtsituation anheimfielen, spiegelte sich im Überraschungserfolg von Norah Jones wider („Come Away with Me“). Folk war wieder wer. Country aber auch. Auf „American IV: The Man Comes Around“ hob Johnny Cash den Song „Hurt“ in den Adelsstand. Tom Waits (“Alice”), Wilco (“Yankee Hotel Foxtrot”) und Sigur Ròs (“( )”) schienen die Götter ebenfalls besänftigen zu wollen. Was einige US-Patrioten nicht davon abhielt, später CDs der Dixie Chicks zu zerdeppern. Coldplay traten mit„A Rush of Blood to the Head“ das Erbe von U2 an, The Roots (“Phrenology”) verhalfen dem Afro zu einem Comeback, The Streets („Original Pirate Material“) waren Englands Antwort auf Eminem („The Eminem Show“) und The Flaming Lips erinnerten mit „Yoshimi Battles the Pink Roboter“ an Progrock-Zeiten. Mit „Songs fort the Deaf“ stellten die Queens of the Stone Age die Weichen für vieles, was noch kommen sollte, „Veni, Vidi, Vicious“ hiess das im Falle von The Hives.
2003 war das Jahr, in dem Rock brach. Das Duo The White Stripes brannten ihren reduzierten Gitarrenschlagzeugsound erstmals auf CD („Elephant“), The Strokes legt mit „Room on Fire“ nach, The Darkness baten mit „Permission to Land“ um Landeerlaubnis und The Libertines präsentierten das, was später mal Pete Doherty werden sollte. Das Nachsehen hatte, wer kein „The“ im Namen trug. Blurs „Think Tank“ wurde unterschätzt und auch Radioheads „Hail to the Thief“ erhielt nicht die übliche Aufmerksamkeit. Es beschlich einem zudem der Verdacht, in den USA sei wieder strikte Rassentrennung eingeführt worden: Wer jung und weiss war, hörte Rock, wer jung und schwarz war, R’n’B und Hip-Hop. Dass sich ausgerechnet Justin Timberlake 2003 die R’n’B-Krone aufsetzen durfte, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt und seit Elvis Tradition hat. Daneben war eBeyoncé Knowles („Dangerously in Love“), die mit der Unterstützung von Jay-Z („The Black Album“) die Jahrescharts dominierte oder der vorperforierte 50 Cent („Get Rich or Die Tryin’“), von dem sich zumindest am Anfang die halbe Welt zu fürchten schien. Das galt auch für Marilyn Manson („The Golden Age of Grotesque“), der mit guter Rhetorik und schlechter Musik eine wachsende Anhängerschaft von lichtallergischen Neo-Gruftis bediente. Zu allem Überfluss stiess sich Elliott Smith ein Messer in die Brust.
2004 gehörte Franz Ferdinand oder zumindest einem ihrer Songs. „Take Me Out“ klang ziemlich gut, erinnerte etwas an The Clash, deren „London Calling“ exakt 25 Jahre zuvor erschienen war. Überhaupt war 1979 die hippe Jahreszahl. Der Retro-Boom trug bisweilen seltsame Blüten, bei den Kritikern ganz oben standen „The Name of the Band Is Talking Heads“ und das schliesslich doch noch fertiggestelle „Smile“ von Brian Wilson (Ehre wem Ehre gebührt, doch das Album ist in meinen Ohren schlicht unhörbar). Etwas aktueller wirkten „The Funeral“ von The Arcade Fire, „A Grand Don’t Come for Free“ von The Streets und die Scissor Sisters mit ihrem schwülen Discosound. Nouvelle Vague taten, was man schon länger tun hätte können. „Hot Fuss“ von The Killers, „The Grey Album“ von Danger Mouse, Green Days „American Idiot” (wenn Bush ein Idiot ist, was waren dann die 52 Prozent, die ihn 2004 wiedergewählt haben?) “Encore” von Eminem, „The College Drop Out“ von Kanye West und nichts wirklich Neues von Adam Green („Gemstones“). War es ein gutes Jahr? Nein, nicht besonders.
2005 sollte wieder alles anders werden. Eine neue Sensibilität, fragiles Folk- und Songerwritertum. Bright Eyes („I’m Wide Awake, It’s Morning“), Antony & The Johnsons („I’m a Bird Now“), Sufjan Stevens (“Illinois”), Rufus Wainwright (Want Two), selbst die Tanzmusik klang irgendwie soft (The Go!Team, Gorillaz). Bloc Party hiess die heisseste Neuentdeckung, weitere Anwärter auf das Album des Jahres waren My Morning Jacket („Z“), Sleater-Kinney („The Woods“) und M.I.A. (Arular). Erstaunlich aktuell auch „Fall Heads Roll“ von The Fall, mit dem Mark E. Smith nochmals zeigte, wo im Rock das Fallbeil hängt. Sogar Madonna („Confessions on a Dancefloor“) besann sich auf ihre Kernkompetenz. The Go-Betweens beglückten die Welt mit einem letzten Album (ein Jahr später erlag Grant McLennan einem Herzinfarkt). Auch die Musikindustrie kam aus dem Wehklagen nicht mehr heraus. EMI gab bekannt, dass ihr Finanzplan durcheinandergeraten sei, weil Coldplay den Release ihres Albums verschoben hätten. Apple, die mit ihrem Store in der Schweiz 2005 online ging, rieb sich hingegen die Hände. Von den angekündigten neuen Audioformaten hingegen war bei den Musikkonsumenten bisher wenig angekommen. Für objektive Tonqualität, so schien es, interessierte sich während der Hochzeit der Klingeltöne niemand mehr.
2006 hörten alle Gnarls Barkley. Komischer Name, aber es war auch ein komisches Jahr. „Crazy“ hiess folgerichtig der Song, der mit nichts aus den Charts zu vertreiben war. Der Rest von „St. Elsewhere“ war nicht ganz so gut, doch das galt auch für The Raconteurs („Steady As She Goes“ resp. „Broken Boy Soldiers“). Für deutsche Austauschstudenten gabs Peter, Bjorn & John („Writer’s Block“), für Kunstgewerbeschülerinnen „Ys“ von Joanna Newsom. Bob Dylan veröffentliche mit „Modern Times“ wieder einmal das „beste Album seit Blonde on Blonde“. Mit der Kaufempfehlung für Scott Walkers „The Drift“ rächten sich Popkritiker an ihren Lesern dafür, dass sie selbst ständig grausame Musik hören mussten („The Drift“ ist toll, doch wer gerne lebt, sollte sich das Album nicht mehr als einmal im Jahr antun). Prince erhielt für „3121“ ebenfalls viel Lob, doch was macht man eigentlich zu dieser Musik? Grüntee trinken? Der Hype des Jahres war eindeutig „Love“ von den Beatles, ein Mash-up der bekanntesten Fab-Four-Hits. Es wollte einfach niemand zugeben, was für ein überflüssiger Seich das war. Hingegen richtig aufregend waren die Arctic Monkeys, die genauso klangen wie der Albumtitel („Whatever People Say I’m, That’s What I’m Not”). Ob die Band aber tatsächlich „übers Internet“ bekannt wurde, bleibt zweifelhaft. Thom Yorke („The Eraser“), Lily Allen („Alright, Still“), Amy Winehouse (“Back to Black”) die Yeah Yeah Yeahs (“Show Your Bones”): Viel Qualität, wenig Gemeinsames. Das Jahrzehnt neigte sich bereits seinem Ende zu.
2007 begann sehr warm. Der Tophit des Jahres hiess denn auch „Klimawandel“. Al Gore wurde „gefeiert wie ein Popstar“ (Nervsatz des Vorjahres). Die dazugehörige Grossveranstaltung zeigte: Die Popmusik befindet sich in einer mittelschweren Krise. Wenn jemand wie Elton John die überzeugendste, weil rockendste Liveshow bietet, dann haben die anderen wohl ein Problem. „This Is Not Entertainment! This Is a Revolution!“, rief Madonna an jenem verlorenen Wochenende ins Publikum. Doch genau das war Live Earth eben nicht. Auch 2007 wird die Revolution nicht übertragen. Sie findet, wenn überhaupt, in den Kellern statt. Das Album dazu: "In Rainbows" von Radiohead. Die Band wird man einfach nicht los. Das Werk war bisher nur als Download erhältlich, die Zahlungsmoral der Fans hielt sich in bescheidene Grenzen. Es ist ja nun nicht so, dass man um die Zukunft von guter Popmusik bangen müsste. Sie findet ihren Weg. Bleibt nur die Frage, ob wir auch den Weg zu ihr finden. Aber das steht ja alles in diesem Heft.
Top-Alben 2007
1. “Mirrored” – The Battles
2. “Raising Sand” - Robert Plant & Alison Krauss
3. “Everybody” – The Sea and Cake
4. “Neon Bible” – The Arcade Fire
5. “Shotters Nation” – Babyshambles
6. “Alive 2007” – Daft Punk
7. “One Wing Angel” - Scala & Kolacny Brothers
8. “New Moon” – Elliott Smith
9. “Grinderman” – Grinderman
10. “45:33” – LCD Soundsystem
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