Dienstag, 11. Dezember 2007

1, 2, 3, 4 ...



Schon wieder zehn Jahre verhuscht. Was war 1998? Und was kam danach? Ein Inventar.

von Martin Söhnlein

1998 war kein schlechtes Jahr. Schon deshalb, weil in den Kinos „The Big Lebowski“ anlief und Mark Hollis sein erstes und einziges Soloalbum veröffentlichte. Ansonsten wartete man auf das nächste grosse Ding. Massive Attack verabschiedeten sich mit „Mezzanine“ vom Trip-Hop. Der Vorjahressieger „Ok Computer“ hallte noch in den Köpfen jener nach, die der Rockmusik über die schweren Technojahre hinweg die Treue gehalten hatten und nun zu „Sexy Boy“ mit den Füssen wippten. R.E.M. machten auf„Up“ schöne Musik, doch die war trotz Schlagzeugmaschine mehr Rück- als Ausblick. Überhaupt besann sich die Szene auf alte Werte und schloss neue Freundschaften. Elvis Costello liess sich auf Burt Bacharach, der Rest der Welt auf Easy Listening ein. Uncool war das neue Cool und The Blood Hound Gang der Soundtrack für alle Pubertätsgläubigen. Die Postrocker der Chicagoer Schuler coverten auf „Smiling Pets“ alte Beach-Boys-Songs. Auch so kann man tschüss sagen.

1999 gingen alle nach Kuba und allen anderen auf den Wecker. Norman Cook alias Fatboy Slim erhielt für das Video zu „Praise You“ einen Award, den eigentlich Spike Jonze verdient gehabt hätte. The Flaming Lips veröffentlichten „The Soft Bulletin“, Eminem seine „Slim Shady LP“, Pavement ihr letztes Album „Terror Twighlight“, Blumfeld „Ol’ Nobody“ und Prefab Sprout „Andromeda Heights“. Die Menschen schwankten zwischen Partylaune und Fin-du-siècle-Melancholie. Für ein paar Monate schien die Grenze zwischen Mainstream und Underground, zwischen Radio und Vierspur-Show aufgehoben. Schwarzgekleidete schworen zwar auf Godspeed You Black Emperor! (und Schlechtgekleidete auf Britney Spears); Baz Luhrmanns „Everybody’s Free (to Wear Sunscreen)“ oder „You Only Get What You Give“ der New Radicals aber taten über die Gräben hinweg Wahres kund und führten die englischen Charts an. Vielleicht aber wollte man das Jahr einfach nur möglichst schnell hinter sich bringen.

2000 freuten sich die Menschen, dass sie noch lebten. Auch A-ha, die mit einem feinen Pop-Album überraschten. Bei Coldplay („Parachute“) dachten einige ebenfalls an A-ha, was so falsch ja nicht ist. Madonna brachte den Pop zurück auf den Dancefloor und „Music“ sie in die Charts. Die Leute waren so gut drauf, dass sie Robbie Williams das mittelmässige „Sing When You’re Winning“ verziehen und er seither ein Superstar ist. Outkast („Stankonia“) waren aber besser. Goldfrapp („Felt Mountain“), Lambchop („Nixon“) und Phoenix („United“) auch. Sugababes waren auch super, doch es tat sich noch anderes: Das Feuilleton fühlte sich plötzlich nicht mehr über den „Metal Hammer“ erhaben und schrieb nun euphorischen AC/DC-Schwurbel. The White Stripes („The Stijl“) machten mit Vinyl-only-Releases, Queens of the Stone Age mit „Rated R“ von sich reden. Die Retro-Tendenz war nicht neu, neu hingegen war, dass sich die Öffentlichkeit nun offenbar der gefährlichsten aller nachtaktiven Musikrichtungen zu nähern getraute: Rock.

2001 brach das dunkle Zeitalter an. Das bescherte uns interessante Musik: Sigur Ròs („Agaetis Byriun“), The Strokes („Is This It?“), The Shins (“Oh, Inverted World”), Black Rebel Motor Cylce Club (Dito) und System of a Down (“Toxicity”). Bemerkenswert auch zwei Filme: Cameron Crowes „Almost Famous“, in dem sich Hollywood zum ersten Mal dem Thema Rockbusiness widmete, und Baz Luhrmanns „Moulin Rouge“, der Pop so behandelt, wie Pop behandelt werden will: als Volksgut. Getanzt wurde dann aber wieder zu Kylie Minogue („Can’t Get You Out of My Mind“) oder den Gorillaz („Clint Eastwood“). Der Ipod erblickte das Licht der Welt, Napster wurde zu Grabe getragen und die Skyline von New York erfuhr eine radikale Änderung. Am selben Tag erschien Bob Dylans „Love and Theft“. Auch Rufus Wainwright, P.J. Harvey, Tenacious D, Jay-Z, Missy Elliott und Björk wurden von der Kritik gefeiert. Blieben noch Steely Dan („Two Against Nature“), Air („10 000 Hz Legend“), Prefab Sprout (“The Gunman & Other Stories”), Daft Punk (“Discovery”) und „Zweilicht“, ein stimmungsvolles Album der Hamburger Band Kante.

2002 herrschte Krieg, und zwar ein präventiver. Der verqueren Logik ihres Präsidenten mochten sich nicht alle Amerikaner anschliessen. Der Boss legte seine Sicht zur Lage der Nation (Bruce Springsteen, „The Rising“) persönlich dar. Sogar R’n’B’ erschien dank der Neptunes (N.E.R.D., „In Search of…“) für kurze Zeit erträglich. Der Eskapismus, dem viele Menschen angesichts der deprimierenden Gesamtsituation anheimfielen, spiegelte sich im Überraschungserfolg von Norah Jones wider („Come Away with Me“). Folk war wieder wer. Country aber auch. Auf „American IV: The Man Comes Around“ hob Johnny Cash den Song „Hurt“ in den Adelsstand. Tom Waits (“Alice”), Wilco (“Yankee Hotel Foxtrot”) und Sigur Ròs (“( )”) schienen die Götter ebenfalls besänftigen zu wollen. Was einige US-Patrioten nicht davon abhielt, später CDs der Dixie Chicks zu zerdeppern. Coldplay traten mit„A Rush of Blood to the Head“ das Erbe von U2 an, The Roots (“Phrenology”) verhalfen dem Afro zu einem Comeback, The Streets („Original Pirate Material“) waren Englands Antwort auf Eminem („The Eminem Show“) und The Flaming Lips erinnerten mit „Yoshimi Battles the Pink Roboter“ an Progrock-Zeiten. Mit „Songs fort the Deaf“ stellten die Queens of the Stone Age die Weichen für vieles, was noch kommen sollte, „Veni, Vidi, Vicious“ hiess das im Falle von The Hives.

2003 war das Jahr, in dem Rock brach. Das Duo The White Stripes brannten ihren reduzierten Gitarrenschlagzeugsound erstmals auf CD („Elephant“), The Strokes legt mit „Room on Fire“ nach, The Darkness baten mit „Permission to Land“ um Landeerlaubnis und The Libertines präsentierten das, was später mal Pete Doherty werden sollte. Das Nachsehen hatte, wer kein „The“ im Namen trug. Blurs „Think Tank“ wurde unterschätzt und auch Radioheads „Hail to the Thief“ erhielt nicht die übliche Aufmerksamkeit. Es beschlich einem zudem der Verdacht, in den USA sei wieder strikte Rassentrennung eingeführt worden: Wer jung und weiss war, hörte Rock, wer jung und schwarz war, R’n’B und Hip-Hop. Dass sich ausgerechnet Justin Timberlake 2003 die R’n’B-Krone aufsetzen durfte, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt und seit Elvis Tradition hat. Daneben war eBeyoncé Knowles („Dangerously in Love“), die mit der Unterstützung von Jay-Z („The Black Album“) die Jahrescharts dominierte oder der vorperforierte 50 Cent („Get Rich or Die Tryin’“), von dem sich zumindest am Anfang die halbe Welt zu fürchten schien. Das galt auch für Marilyn Manson („The Golden Age of Grotesque“), der mit guter Rhetorik und schlechter Musik eine wachsende Anhängerschaft von lichtallergischen Neo-Gruftis bediente. Zu allem Überfluss stiess sich Elliott Smith ein Messer in die Brust.

2004 gehörte Franz Ferdinand oder zumindest einem ihrer Songs. „Take Me Out“ klang ziemlich gut, erinnerte etwas an The Clash, deren „London Calling“ exakt 25 Jahre zuvor erschienen war. Überhaupt war 1979 die hippe Jahreszahl. Der Retro-Boom trug bisweilen seltsame Blüten, bei den Kritikern ganz oben standen „The Name of the Band Is Talking Heads“ und das schliesslich doch noch fertiggestelle „Smile“ von Brian Wilson (Ehre wem Ehre gebührt, doch das Album ist in meinen Ohren schlicht unhörbar). Etwas aktueller wirkten „The Funeral“ von The Arcade Fire, „A Grand Don’t Come for Free“ von The Streets und die Scissor Sisters mit ihrem schwülen Discosound. Nouvelle Vague taten, was man schon länger tun hätte können. „Hot Fuss“ von The Killers, „The Grey Album“ von Danger Mouse, Green Days „American Idiot” (wenn Bush ein Idiot ist, was waren dann die 52 Prozent, die ihn 2004 wiedergewählt haben?) “Encore” von Eminem, „The College Drop Out“ von Kanye West und nichts wirklich Neues von Adam Green („Gemstones“). War es ein gutes Jahr? Nein, nicht besonders.

2005 sollte wieder alles anders werden. Eine neue Sensibilität, fragiles Folk- und Songerwritertum. Bright Eyes („I’m Wide Awake, It’s Morning“), Antony & The Johnsons („I’m a Bird Now“), Sufjan Stevens (“Illinois”), Rufus Wainwright (Want Two), selbst die Tanzmusik klang irgendwie soft (The Go!Team, Gorillaz). Bloc Party hiess die heisseste Neuentdeckung, weitere Anwärter auf das Album des Jahres waren My Morning Jacket („Z“), Sleater-Kinney („The Woods“) und M.I.A. (Arular). Erstaunlich aktuell auch „Fall Heads Roll“ von The Fall, mit dem Mark E. Smith nochmals zeigte, wo im Rock das Fallbeil hängt. Sogar Madonna („Confessions on a Dancefloor“) besann sich auf ihre Kernkompetenz. The Go-Betweens beglückten die Welt mit einem letzten Album (ein Jahr später erlag Grant McLennan einem Herzinfarkt). Auch die Musikindustrie kam aus dem Wehklagen nicht mehr heraus. EMI gab bekannt, dass ihr Finanzplan durcheinandergeraten sei, weil Coldplay den Release ihres Albums verschoben hätten. Apple, die mit ihrem Store in der Schweiz 2005 online ging, rieb sich hingegen die Hände. Von den angekündigten neuen Audioformaten hingegen war bei den Musikkonsumenten bisher wenig angekommen. Für objektive Tonqualität, so schien es, interessierte sich während der Hochzeit der Klingeltöne niemand mehr.

2006 hörten alle Gnarls Barkley. Komischer Name, aber es war auch ein komisches Jahr. „Crazy“ hiess folgerichtig der Song, der mit nichts aus den Charts zu vertreiben war. Der Rest von „St. Elsewhere“ war nicht ganz so gut, doch das galt auch für The Raconteurs („Steady As She Goes“ resp. „Broken Boy Soldiers“). Für deutsche Austauschstudenten gabs Peter, Bjorn & John („Writer’s Block“), für Kunstgewerbeschülerinnen „Ys“ von Joanna Newsom. Bob Dylan veröffentliche mit „Modern Times“ wieder einmal das „beste Album seit Blonde on Blonde“. Mit der Kaufempfehlung für Scott Walkers „The Drift“ rächten sich Popkritiker an ihren Lesern dafür, dass sie selbst ständig grausame Musik hören mussten („The Drift“ ist toll, doch wer gerne lebt, sollte sich das Album nicht mehr als einmal im Jahr antun). Prince erhielt für „3121“ ebenfalls viel Lob, doch was macht man eigentlich zu dieser Musik? Grüntee trinken? Der Hype des Jahres war eindeutig „Love“ von den Beatles, ein Mash-up der bekanntesten Fab-Four-Hits. Es wollte einfach niemand zugeben, was für ein überflüssiger Seich das war. Hingegen richtig aufregend waren die Arctic Monkeys, die genauso klangen wie der Albumtitel („Whatever People Say I’m, That’s What I’m Not”). Ob die Band aber tatsächlich „übers Internet“ bekannt wurde, bleibt zweifelhaft. Thom Yorke („The Eraser“), Lily Allen („Alright, Still“), Amy Winehouse (“Back to Black”) die Yeah Yeah Yeahs (“Show Your Bones”): Viel Qualität, wenig Gemeinsames. Das Jahrzehnt neigte sich bereits seinem Ende zu.

2007 begann sehr warm. Der Tophit des Jahres hiess denn auch „Klimawandel“. Al Gore wurde „gefeiert wie ein Popstar“ (Nervsatz des Vorjahres). Die dazugehörige Grossveranstaltung zeigte: Die Popmusik befindet sich in einer mittelschweren Krise. Wenn jemand wie Elton John die überzeugendste, weil rockendste Liveshow bietet, dann haben die anderen wohl ein Problem. „This Is Not Entertainment! This Is a Revolution!“, rief Madonna an jenem verlorenen Wochenende ins Publikum. Doch genau das war Live Earth eben nicht. Auch 2007 wird die Revolution nicht übertragen. Sie findet, wenn überhaupt, in den Kellern statt. Das Album dazu: "In Rainbows" von Radiohead. Die Band wird man einfach nicht los. Das Werk war bisher nur als Download erhältlich, die Zahlungsmoral der Fans hielt sich in bescheidene Grenzen. Es ist ja nun nicht so, dass man um die Zukunft von guter Popmusik bangen müsste. Sie findet ihren Weg. Bleibt nur die Frage, ob wir auch den Weg zu ihr finden. Aber das steht ja alles in diesem Heft.


Top-Alben 2007

1. “Mirrored” – The Battles
2. “Raising Sand” - Robert Plant & Alison Krauss
3. “Everybody” – The Sea and Cake
4. “Neon Bible” – The Arcade Fire
5. “Shotters Nation” – Babyshambles
6. “Alive 2007” – Daft Punk
7. “One Wing Angel” - Scala & Kolacny Brothers
8. “New Moon” – Elliott Smith
9. “Grinderman” – Grinderman
10. “45:33” – LCD Soundsystem

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Samstag, 24. November 2007

Damals im Sommer

Dienstag, 23. Oktober 2007

Die Rockfabrik



Der Kampf der Roten Fabrik um Akzeptanz ist seit ihren Anfängen eng mit dem Kampf für die Akzeptanz von innovativer Rockmusik verbunden. Beides ist heute selbstverständlich – mit letzterem lässt sich mittlerweile sogar richtig Geld verdienen.

„Es ist ein Skandal, dass die Stadt Zürich das Opernhaus mit 84 Franken pro Sitzplatz subventioniert, für Rockkonzerte in der Roten Fabrik aber angeblich kein Geld hat“, meldete sich ein empörter Jungsozialist während einer Podiumsdiskussion im Juni 1980 zu Wort. Mit der Frage, ob die Musik Bob Marleys tatsächlich als Kultur einzustufen sei, hatte Stadtpräsident Sigi Widmer Wochen zuvor die Stimmung zusätzlich angeheizt. Der Rest der Argumente ging in den Protestrufen unter - und als „Opernkrawalle“ in die Geschichte ein.

Für Spätgeborene dürfte es interessant sein zu erfahren, dass die Rote Fabrik damals zwar mit einem zweitägigen „Grossen Fest“ (unter anderem mit Sperma, Mother’s Ruin und Liliput) ihren Konzertbetrieb aufnahm, sich aber schon bald szeneinterne Querelen abzuzeichnen begangen. Insbesondere wurde die Konsumhaltung kritisiert: Den kulturellen Freiraum hatte man sich zu hart erkämpft, um ihn nun einfach dosenbiertrinkenden Wochendpunks und dauerkiffenden Mittelschulhippies zu überlassen. Die aktive Teilnahme an Arbeitsgruppen in den Sparten Theater, Literatur, Kunst, Film und Video war ausdrücklich erwünscht, doch bereits 1983 machte der „Tell“ unter dem Titel „Erfolg mit Monokultur“ eine zunehmende Vormachtstellung der Musik aus.

Rock wurde bereits damals auch im Volkshaus oder im Hallenstadion abgehandelt, gleichzeitig sah sich die Betriebsgruppe der Roten Fabrik immer mehr zum Serviceteam für gesellige Konzertabende degradiert. Zu allem Überfluss drohte auch noch ein Teil der Bohème in die neu entstandene Abbruchhausszene abzuwandern. „Was ist da eigentlich los?“, ereiferte sich 1987 der „Alpenzeiger“ nach einem schlecht besuchten Konzert von Jonathan Richman. „Sind eigentlich alle gerade beim Theaterproben, beim Hodenbaden oder im Kino? Es gibt keine andere Stadt in Mitteleuropa, in der eine einst rebellische Szene dermassen schnell ihre Würde, ihr Gesicht und ihren spröden Charme verloren hat."

Der wüsten Analyse lag offenbar ein schmerzhafter Abnablungsprozess zu Grunde, dennoch oder gerade deshalb entwickelte sich die Rote Fabrik in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Konzertveranstalter der Schweiz. Besonders, was die so genannte alternative Rockmusik anging. Von Hüsker Dü über Sonic Youth, Pixies, den Red Hot Chili Peppers bis hin zu Nirvana trat in der Aktionshalle alles auf, was auf einem repräsentativen 90er-Rocksampler nicht fehlen darf, und zwar, und das schien doch irgendwie der Witz, zumeist bevor die Künstler den kommerziellen Durchbruch schafften. Das Programm der Ziischtigmusig war von ähnlicher Qualität und die Rote Fabrik für ein paar Jahre ein Synonym für eine bestimmte Spielart des Rock: hart, einigermassen originell, immer sehr laut und meistens sehr schön.

Dann kam die Wohlgroth, dann kam Seattle, dann kam Kaufleuten, dann kam Techno und Hip-Hop war ja schon da. Doch es kam vor allem eine neue Generation von Jugendbewegten: Das Entweder-Oder der Achtziger wurde abgelöst vom Sowohl-als-Auch der Neunziger. Der Fall der Mauer hatte in Europa offenbar ein grosses Partybedürfnis ausgelöst. Das Big Cat Festival in der Roten Fabrik markierte gewissermassen eine Zäsur. Von nun an fand alles irgendwo statt. Sonic Youth spielten jetzt plötzlich im Volkshaus und Pavement verabschiedeten sich von ihren Fans am Ende des Jahrzehnts im X-tra.

Es ergaben sich jede Menge neuer Nischen und die Karten wurden unter Zürichs Konzert- und Partyveranstaltern neu verteilt. Das Abart öffnete 1997 seine Türen und wirbt heute noch mit dem Vorzug, „Zürichs Alternative zu den technoiden Dance Clubs“ zu sein. Die Abgrenzung dient dabei in erster Linie der Positionierung. Von Nik Kershaw über Echt bis hin zu Newcomerwettbewerben und albernen Cover-Bands fand dort bereits vieles Platz. Andererseits leistet der Club – wie auch in jüngerer Zeit das Mascotte, das Helsinki, die Zukunft und seit Äonen das El Lokal - immer wieder Bemerkenswertes, beweist viel Gespür für Trends in der Rockmusik und brachte zum Beispiel Bands wie Franz Ferdinand gleich zweimal nach Zürich - beziehungsweise Winterthur.

Dass dabei die Alternative von gestern unter veränderten Bedingungen immer auch der Mainstream von morgen sein kann, liegt in der Natur der Sache. Während sich in den Achtzigern die Rote Fabrik noch für eine aktive „Befreiung der Rockmusik aus dem Würgegriff des Kommerz“ (Chris Cutler) aussprach, bekundet sie heute eher Mühe damit, im globalisierten Markt überhaupt noch mitbieten zu können. In gewisser Weise sind ihr da durch ihre Geschichte, die städtischen Subventionen und den daran geknüpften Ethos – die Eintrittspreise sollten eine gewisse Höhe nicht überschreiten - die Hände gebunden. Andrerseits kann es auch nicht Aufgabe des Musikbüros sein, das im Moment ohnehin gut gedeihende Feld der Rockkonzerte unnötig zu bewässern.

Falls man nun aber die Prognose, mit dem Verschwinden des physischen Tonträgers würde die Tourneen für die Künstler an kommerzieller Bedeutung gewinnen, ernst nimmt, so dürfte sich im Veranstaltungsbereich in naher und ferner Zukunft einiges bewegen. Wenngleich noch völlig unklar ist, wer dieser Flut von Konzerten eigentlich beiwohnen soll.

Fest steht, dass die Rote Fabrik den heutigen kommerziellen Veranstaltern von Rockkonzerten in gewisser Weise den Weg geebnet hat. Fest steht aber auch, dass es längst auch innerhalb des Mainstreams Experten gibt, die ihr Handwerk verstehen. „Vor 20 Jahren waren diese Künste und ihre Millieus noch aus der Mainstream ausgeschlossen, weswegen man sie noch leichter für kontrovers halten konnte“, merkte Diedrich Diederichsen kürzlich in einem Interview kritisch an.
Dem unbekannten Jungsozialisten sei versichert, dass sich die Situation inzwischen leicht zu Gunsten der Roten Fabrik verbessert hat. Für die Rockmusik aber sorgt heute – wie wohl schon damals – der Markt. Oder um es mit Stephan Gregory zu sagen: Die "Klugheit" eines Systems bestimmt sich dadurch, wie weit es in der Lage ist, von den Tendenzen Gebrauch zu machen, die es negieren.

Montag, 15. Oktober 2007

Hot Love

Vor einem Jahr hanebüchert sich ein um Aufmerksamkeit buhlender Song durch die tonangebenden Musikkanäle. “I Wish I Was a Punk Rocker (with Flowers in My Hair)“ lautet sein revisionistischer Titel und die Schottin Sandi Thom lässt darin Kraut und Rüben munter durcheinander wirbeln: „In 77 and 69 revolution was in the air (…) when music really mattered (…) when popstars still remaind a myth (…) and the media couldn’t buy your soul“. Derlei Plattitüden zeugen von einem Lebensgefühl, das mit Hinblick auf das Geburtsjahr von Sandi Thom - 1981 - bestenfalls als pränatale Nostalgie bezeichnet werden kann.

Denn obwohl gegen Letzteres nichts Grundsätzliches einzuwenden ist (gerade jüngere Menschen hegen bekanntlich mitunter den Wunsch, entweder gar nicht oder dann zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt geboren worden zu sein), geht es natürlich nicht an, die beiden Jahrzehnte popphänomenologisch in einen Topf zu werfen: Die Hippies standen für exquisite Drogen, für das Recht auf freie Liebe und gegen den Krieg ein. Die Punks hingegen beanspruchten billigen Fusel, das Recht auf Perspektivelosigkeit und waren gegen Hippies.

In der Schweiz traf dies ab Mitte der Siebziger zumindest theoretisch zu, denn wie Lurker Grand, Herausgeber von „Hot Love – Swiss Punk & Wave 1976 – 1980“ schreibt, hatten die 68-er bis dahin kaum Spuren hinterlassen. „Eine Veränderung der verkrusteten Gesellschaftsstruktur schien nirgends in Aussicht. Unruhige Zeitgeister und energiegeladene Teenager passten nicht ins Bild, sie störten die Idylle.“ Nicht durch „klare Überlegungen, vielmehr durch gebrochene Gefühle“ hätten die neuen Protestsongs aus New York und London ein auch in der Schweiz unter vielen Jugendlichen grassierendes schleichendes Unbehagen formuliert.

Lurker Grand spricht in diesem Zusammenhang von einem „Ausdruck tief enttäuschter Lebenslust“ – man könnte aber auch St. Gallen dazu sagen. „Es erstaunt nicht, dass die Anfänge der hiesigen Punkszene in den beiden urbanen Zentren Zürich und Genf entstanden sind“, räumt der Ostschweizer ein. Erst später hätten sich auch Szenen in Bern, Luzern, Biel, Basel, Lausanne oder eben St. Gallen entwickelt. Es solle aber nicht der Eindruck erweckt werden, es hätte sich dabei um eine Massenbewegung gehandelt: „Es war eine Antibewegung, die von einigen hundert Personen verkörpert wurde.“

Als Jungpunk beschaffte sich Lurker im St. Galler BRO Records die angesagten Punkscheiben und bastelte sich sein eigenes Outfit („hart und cool, grelle Farben und schwarzes Leder“). Dem ersten Punkfestival der Schweiz (am 1. Oktober 1977 mit The Clash im Zürcher Kaufleuten) wohnte er zwar aus nicht mehr rekonstruierbaren Gründen NICHT bei („das bereue ich bis heute“), dafür erlebte er im Frühling 1978 die Nasal Boys im Kongresshaus Schützengarten. „Ich ging als einsamer Wolf voll gestylt in Punkmontour dahin und war zuerst mal enttäuscht von dem Haufen Discofröschen, die dort herumlungerten.“ Das Konzert erwies sich dann aber als Offenbarung.

Später verschlug es Lurker nach Zürich, wo er im Jelmoli eine Lehre absolvierte, in der Feldstrasse ein Zimmer bezog und in den Gassen und Clubs die Zürcher Punks kennen lernte. Die Szene war inzwischen derart angewachsen, dass sie sich bereits im Auflösungsprozess befand. „Entweder verfolgte man seinen eigenen Weg in einem neuen Umfeld oder man schloss sich einer Gruppierung wie den Teds, Mods oder Skins an, bei denen das Individuelle grösstenteils verloren ging.“ Lurker pendelte zwischen Zürich und St. Gallen, wo er 1980 das „erste und bis heute einzige“ Punkfestival mit u.a Grauzone, Crazy und Chaos organisierte und zusammen mit Otto von Haschburg im Linsenbühlquartier einen Plattenladen eröffnete („die Droge Punkvinyl verkaufte sich kaum, doch wie schon Ottos Beiname andeutet, war der Umsatz am Abend trotzdem befriedigend“).

Als Lurker Grand am Abend des 30. Mai 1980 - kurz zuvor hatte er sich Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ angesehen - Richtung Limmatquai zusteuerte, wähnte er sich just in jenen Film versetzt. „Es lag ja schon länger Stunk in der Luft, nicht nur in Zürich. Auch in den anderen Städten wurden Kulturzentren und billiger Wohn- und Arbeitsraum gefordert“, kommentiert er leicht spröde die Anfänge der Jugendunruhen.

Tatsächlich markierte der Beginn der Zürcher Jugendunruhen das vorläufige Ende der Schweizer Punkgeneration: «Für diese erste Generation sucht man vergeblich nach einer politikbezogenen Motivation», kommen die Macher von «Hot Love» zum Schluss. Falls man überhaupt einen gemeinsamen Nenner erkennen könne, dann sei dies „der Überdruss an der Mainstream-Kultur, der Wunsch nach Neuem, Aufregenden, Lautem und Wilden.“

Auf insgesamt 324 Seiten kommen in „Hot Love“ eine Vielzahl der damaligen Protagonisten zu Wort. Zum Beispiel Sandro Sursock, der unter dem bezeichnenden Titel „Kill the Hippies“ von der frühen Punkszene in Genf berichtet („die Genfer Hippies, die auf Jazzrock standen, hassten uns, und wir verachteten sie“.) Oder Dieter Meier, der in einem Interview mit dem Fanzine „No Fun“ bereits 1978 die Oberflächlichkeit der Szene geisselte („ich verstehe unter Punk, wenn überhaupt irgendwas, einen individuellen Anarchismus, eine Auflehnung, eine Weigerung, die erst am äussersten Rand auch in der Kleidung in Erscheinung tritt“) Dazu Peter Fischli („als Punk kam, war das wie eine Erlösung“), Peter Preissle („der Wein ist im Kühlschrank. Welche Stücke nehmt ihr auf?“), Bob Fischer („bekanntlich ist Rock’n’Roll am 18. September 1970 gestorben, als Jimi Hendrix sich an seiner Kotze verschluckte“) und Noldi Meyer, der als sehr herziger 13-Jähriger zusammen mit der sehr coolen Blondie posiert. Überhaupt bietet der Band Bildmaterial in Hülle und Fülle: Fotos, Plakate, Flyer, Plattencover, Memos und Songmanuskripte in Originalversion. Sämtliche Texte und Bildlegenden sind übrigens auch ins Französische übersetzt.

Der Band bietet also Informationen im Überfluss. Nicht einfach, sich daraus ein stimmiges Bild zu machen. Als “oral“ beziehungsweise „visual history“ leistet das Werk allerdings wertvolle Dienste. Fazit: Gehört in jedes gutsortierte Klo – auch und gerade in dasjenige von Sandi Thom, die uns mit der Zeile “and when god saved the queen she turned a whiter shade of pale” ja fast schon wieder versöhnlich stimmt.

Lurker Grand (Hg.): Hot Love - Swiss Punk and Wave 1976-1980. Edition Patrick Frey. 324 S., Fr. 68.-.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Hit Me with a Flower

Nachdem Kollege Pascal Blum bereits meine Rezension von "Lenin" nicht so doll fand, bezeichnet er nun auch den unten stehenden Hamburger-Text als "eher misslungen". Sollte das der Beginn einer wunderbaren Feindschaft sein? Kaum. Eher handelt es sich um einen jener Grabenkämpfe, gegen die Blum auf "Kommerz" so wortreich anzuschreiben versucht. Hier der elitäre Underground, dort die corporate magazines. Hier der superlangweilige "Züritipp", dort das abgrundtief böse "20 Minuten week". Wie gesagt: Da müssen wir durch und nennen wirs mal Diskurs.

Donnerstag, 4. Oktober 2007

Radio für Erwachsene



Roger Schawinski (62) hat den kleinen Zürcher Sender Radio Tropoic gekauft und möchte daraus einen "Sender für Erwachsene" machen. Der ehemalige Radiopirat setzt mit seinem neuen Radio auf andere Musik (Musik für Erwachsene), eine andere Ansprache («Mir geht das heutige Kids-Getue der meisten Sender auf den Keks») sowie anspruchsvolle Nachrichten («Ich will Massstäbe setzen»).
Mit dem Älterwerden fangen Männer offenbar an, sich für das Erwachsensein zu interessieren.

Dienstag, 2. Oktober 2007

Hektische Unschärfen

Eigentlich wollte der Verstärker an dieser Stelle etwas zu "Stunthero", der neuen Casting-Serie auf SF zwei, schreiben. Aber das kann der Blick besser.

"Schon der Vorspann ist ein Kracher: Da fetzen zehn aufgekratzte, cool gestylte Stuntheros gestern auf SF 2 durch die urbane Nacht. Feuerbälle, Soundeffekte und irre Verfolgungsjagden hämmern einen mit 4 G zurück ins Sofa. Wow, diese Helden-Show ist formal verdammt gut gemacht. Hippe Typen, sexy Girls stürzen sich aus dem Heli. Der Atem stockt. Dauernd ist die Kamera in Bewegung. Es gibt Splitscreen-Technik wie in «24», hektische Unschärfen, Staccato-Schnitte. «Stunthero» elektrisierte schon in Episode 1. Sogar Quentin Tarantino würde sagen: «That was cool, Ingrid!»"

Der Verstärker hat was ganz anderes gesehen und würde sagen: "That was for Aargauer."

Montag, 1. Oktober 2007

Hamburger Schule



Es ist egal, aber: Was macht eigentlich die Hamburger Schule? Während die Goldenen Zitronen weiterhin gegen Windmühlen anrennen, haben sich Blumfeld diesen Frühling aufgelöst. Tocotronic besingen die „Kapitulation“ - doch was genau meinen sie damit?

von Martin Söhnlein

Auch wenn sich die Popmusik derzeit nicht gerade auf dem Höhepunkt ihres schöpferischen Schaffens befindet, als Resonanzkörper gesellschaftlicher Zustände bleibt sie weiterhin relevant. Sie tut ja eigentlich immer nur das eine: private und/oder allgemeine Befindlichkeiten in Geräusche, Töne und Sprache zu übersetzen - und zwar möglichst wahr, irritierend und aufregend. Handelt es sich dabei um die Befindlichkeit vieler, fischt sie im Mainstream, falls nicht, stochert sie mit Vorliebe in den unterirdischen Kanälen jener fünfprozentiger Minderheit, die sich die Welt auch anders vorstellen kann, als wie sie sich gerade präsentiert.

Dass hierbei den Lyrics eine besondere Bedeutung zukommt, ist klar. Ebenso folgerichtig ist, dass nach Reiser, Lindenberg, Westernhagen, Grönemeyer und Kuntze eine neue Generation von deutschsprachigen Musikern versuchte, der hassgeliebten Sprache brauchbare Songtexte abzutrotzen – und zwar abseits der dem Blödeltum anheimgefallenen NDW. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie anmassend und vergeblich dieser Versuch damals anmutete. Blumfeld schafften es als Erste und zwar mit einem smarten Kunstgriff, der Collage. Ein Schwall von ineinander fliessenden Zitaten ergiesst sich aus dem 94er-Album „L’état et moi“. Und dazu die Musik: aufbrausend, aufwühlend, mitreissend, ein Strom für sich.

Menschen, die sich gerne mit der Radikalität anderer schmücken, wandten sich spätestens nach „Jenseits von Jedem“ (2003) enttäuscht von Blumfeld ab. Diese seien jetzt nicht mehr cool, sondern im Gegenteil: Schlager. Seither muss Sänger Jochen Distelmeyer bei jeder Gelegenheit erklären, ob die Texte und die Musik nun ironisch gemeint seien und ob man denn überhaupt von Füchsen, Schmetterlingen, von Tieren ganz allgemein singen dürfe. Geht es um Deutschland, ist offenbar nicht nur die Sprache eine schwere; die Deutungen wiegen nicht minder.

Blumfeld werden gerne als Mitbegründer der Hamburger Schule bezeichnet, die tatsächlichen Urväter aber sind Die Goldenen Zitronen. Mitte der Achtzigerjahre, als Fun-Punk noch kein Schimpfwort war, landete die Band um Schorsch Kamerun und Ted Gaier mit „Am Tag als Thomas Anders starb“ und „Für immer Punk“ mittlere Szenehits. Im Gegensatz zu den Toten Hosen wandelte sich die Gruppe in der Folge zum Guten hin, verfeinerte ihr Credo („Gegen den Alltagsstumpfsinn“) zusehends und wurde vor allem auch musikalisch immer interessanter. Ihr ungeheuer dichtes aktuelles Album „Lenin“ ist geradezu perfekt: Schierer Agitations-Pop, Anti-Rock, der immer leicht verhalten wirkt, dafür aber umso bedrohlicher in Richtung Zuhörer rollt. Der Immigrations-Song „Wenn ich ein Turnschuh wär“, die Spokenword-Hasstirade „Mila“ und das fiese „Lied der Stimmungshochhalter“ sind ebenso komplexe wie präzise Beschreibungen von äusseren und inneren Zuständen, die zu beschreiben sich neuerdings niemand mehr für zuständig hält. Es liege an dem „Fluch der guten Tat“, schreibt ein TAZ-Redaktor, dass das Album nicht die Afmerksamkeit erhalten habe, die dem Werk gebühre - aber von den Goldenen Zitronen werde halt nichts weniger als Herausragendes erwartet.

„Ich kann nicht mehr“ zitiert Schorsch Kamerun in „Mila“ den Buchtitel eines Freundes. Dem stellt das Hamburger Trio Tocotronic ein distinguiertes „Ich würde lieber nicht“ entgegen. Der Satz, der schon seit einer Weile in der deutschen Kunstszene zirkuliert, formuliert gewissermassen ein neues Unbehagen - wenn auch nicht mehr. Denn Tocotronic wollten zum Beispiel auch lieber nicht mehr mit ihrem langjährigen Partner L’Age D’Or zusammenarbeiten. Das Label, das wie kein anderes für die Hamburger Musikszene steht, ist kürzlich haarscharf an einer Insolvenz vorbeigeschrammt, ohne dem Zugpferd Tocotronic sieht die Zukunft düster aus. „Wir sind fest davon ausgegangen, dass unsere Indie-Zusammenarbeit weitergeht, aber die Band wollte auf einmal doch lieber wieder Bauzaun-Plakatierung und so weiter“, zitiert der deutsche „Rolling Stone“ Label-Chef Carol von Rautenkranz.

Und während dieser seinen Beruf wieder zum Hobby machen darf, meditiert Sänger Dirk von Lowtzow im Feuilleton über den obigen Satz von Peter Hein: „Diese Reaktion auf den Zwang zur Selbstoptimierung, auf diesen neoliberalen Imperativ, etwas aus sich zu machen und in Bewegung zu bleiben, kann ich sehr gut verstehen“, verrät er der „NZZ“. Alle wollen diesen Sommer wissen, was der 36-jährige ehemalige Kordhosenträger zu sagen hat, schliesslich heisst das neue Tocotronic-Album „Kapitulation“, was bei einer Band, die einst kam, um sich zu beschweren, erklärungsbedürftig erscheint. Der „Rolling Stone“ feierte die „wichtigste Band Deutschlands“ auf nicht weniger als sechzehn Seiten ab und bezeichnet „Digital ist besser“ (1995) als „das deutsche „Nevermind““.

An derlei Vereinahmungen dürfte sich das Quartett mittlerweile gewöhnt haben. Mit Textzeilen wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, „Ich verabscheue euch für eure Kleinkunst zutiefst“ oder „Aber hier leben, nein danke“ sprach Dirk von Lowtzow einer ganzen Generation von verunsicherten Indie-Nerds aus der Seele. Dabei positionierte sich die Band immer klar links, beteiligte sich an diversen Solidaritätsaktionen für alternative und antifaschistische Organisation und lehnte eine Auszeichnung des Musiksenders Viva in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ (sic!) mit der Begründung ab, weder auf das Jung- noch auf das Deutschsein besonders stolz zu sein, „…und auf dem Weg nach oben, na ja.“

Was sich in solchen Statements bereits abzeichnete, findet nun auf „Kapitulation“ in Albumlänge seine Entsprechung: „Und wenn du kurz davor bist, kurz vor dem Fall, und wenn du denkst, fuck it all, und wenn du nicht weisst, wie soll es weitergehen, Kapitulation“, heisst es im Titelsong. Die Verweigerungs- und Kriegsmetaphorik („Mein Ruin“, „Aus meiner Festung“, „Wehrlos“) durchzieht fast das ganze Werk und man spürt: Hier wird die Lust am Scheitern zelebriert. Was dabei vielleicht am meisten irritiert, ist, dass das Ganze ja gar nicht so neu und originell ist. Da schwingt etwas Punkattitüde, viel jugendlicher Nihilismus, vor allem aber eine gute Portion bürgerliche Melancholie mit. Die Routine, mit der von Lowtzow seine notabene immer noch sehr schönen Sätze abspult, stimmt ebenso skeptisch wie der Umstand, dass sich der Sänger selber seiner Sache nicht so sicher zu sein scheint: „Heute wird immer alles so alles bierernst interpretiert und kleingeredet – nach dem Motto: Was will uns der Autor damit sagen? Das finde ich stinklangweilig.“

Stinklangweilig wäre es allerdings, würden sich Tocotronic in Zukunft mit dem reinen Kokettieren zufrieden geben. Immerhin lässt sich aus „Kapitulation“ auch anderes heraushören: Betörende Popsongs wie „Wir sind viele“ mit Zeilen wie „Wer Ich sagt, hat noch nichts gesagt“ oder das an The Smith erinnernde „Imitationen“ („Dein schlimm ist mein ganz schlimm“). Im Benennen des nur schwer zu Benennenden sind Tocotronic immer noch grosse Meister. Schade nur, dass dabei alles so Element-of-Crime-mässig traurig sein muss. Begehren Text und Musik aber ausnahmsweise wirklich mal auf wie in „Sag alles ab“, klingen Tocotronic ziemlich exakt wie, ja, genau, Blumfeld. Fazit: Die Hamburger Schule lebt - und zwar in Berlin.

Tocotronic “Kapitulation” (Univseral). Die Goldenen Zitronen “Lenin” (RecRec).
Tocotronic live: 5. 10. Rote Fabrik, Zürich; 7. 10. Schürr, Luzern; 8. 10. Volkshaus, Basel.


Dieser Text ist in der aktuellen "Fabrikzeitung" erschienen.

Rote Gourmet Fraktion



Wer kocht eigentlich für Rockstars? Lohnt es sich überhaupt, die drogenverseuchten Strichmännchen mit Kalorien, Vitaminen und unnötigen Ballaststoffen zu versorgen? Alles nur Vorurteile, meint die Rote Gourmet Fraktion.

von Martin Söhnlein

Ein Name ist ein Name ist ein Name, selbst wenn er so gut klingt, dass er es sogar bis in den „Cicero“ schafft: „Wie alle jungen Eliten möchten sich auch die Gewinner der ökosozialen Bildungs-, Kultur-, Gleichstellungs- und Umweltoffensiven von der Masse absetzen“, schreibt dort das Autorenduo Einer/Miersch - und nennt als Beispiel die Rote Gourmet Fraktion, „eine in besseren Kreisen erfolgreiche Catering-Firma.“

Pikanterweiseweise handelt es sich bei diesen Kreisen um just jene, für die sich auch die Leser dieser Zeitung interessieren dürften, um Musiker also, genauer: um Rocker. Die, man glaubt es kaum, essen auch. Wenn auch meistens Risotto. Jedenfalls solange es mit der Karriere nicht vorangeht. Mit dem Erfolg steigen dann allerdings die Ansprüche. Die Liste der kapriziösen Wünsche wohlstandsverwahrloster Unterhaltungskünstler der obersten Liga ist an Umfang und Dekadenz kaum zu überbieten, doch die Regionalisten schliessen langsam auf: „Ein Kilogramm Honig“ forderten zum Beispiel die damals noch eher unbekannten Sens Unik von den Organisatoren eines kleinen, budgetgebeutelten Aargauer Openairs.

Zwischen ganz unten und ganz oben klafft die Lücke, welche die beiden Hamburger Punkköche Jörg Raufeisen und Ole Plogstetd seit bald 15 Jahren zu stopfen versuchen. Das gemeine Tourleben ist ja entgegen anderer Behauptungen kein schönes, sondern im Gegenteil: eher trist. Wer dabei dann auch noch sein Abendessen in bester DDR-Kantinenmanier mit Kellen aus Warmhaltevorrichtungen kredenzt bekommt, ertappt sich schon mal bei dem Gedanken, er könne ja vielleicht zur Abwechslung mal etwas anderes tun: in die Politik gehen, Selbstmord begehen oder dann halt arbeiten.

Die Rote Gourmet Fraktion verspricht in solchen Fällen Abhilfe. Mit Gerichten wie „Pumpgun mit Curryschuss“ (Kürbis-Frühlingsrolle mit scharfer Currysauce), „Junkfish“ (Steinbeisser, in dem eine Spritze mit Gewürzinjektion steckt) oder „Ratte in Rollsplit“ (Poulardenbrust in Mohn paniert) schaffte es der Cateringservice wiederholt, ebenso schlichte wie dunkle Gemüter wie jene von Rammstein und Rosenstolz zu erhellen oder den bereits erleuchteten (Die Ärzte, Die Fantastischen Vier, Die Toten Hosen, Tricky) zumindest etwas Schenkelklopferei zu entlocken. Dazu gesellt sich eine hui-hui-lustige Dekoration („Skelette aus Kunststoff“).

Bei soviel Spass und revolutionärem Witz haben sich im Laufe der Jahre naturgemäss allerlei Anekdoten („Campino will immer einen Teller Nudeln“) zugetragen, die in einem Buch mit dem sprechenden Titel „Rote Gourmet Fraktion – Kochen für Rockstars“ angereichert mit Rezepten versammelt sind. Wichtige Fragen wie „Weshalb sind Rockstars so bescheuert?“ oder “Weshalb man beim Kochen Dead Kennedys, The Vibrators und Beatsteaks, nicht aber U2 und Genesis hören soll“ werden dort erörtert, was letztlich nur den Verdacht stützt, die beiden umtriebigen Thirty-Somethings seien mehr Rock’n’Roll als ihr zwar illustres, aber doch irgendwie gähniges Klientel zusammen.

In allererster Linie ist die Rote Gourmet Fraktion natürlich eine grandiose Geschäftsidee: Längst haben Raufeisen und Plogstedt ihre Mampfzone ausgeweitet, bieten ihrerseits Kochkurse („Kochen wie für Rockstar“) und Fanartikel (RAF-Motiv mit einem Messer anstelle der Kalaschnikow ) an, treten im Fernsehen auf und backen mit diversen Veranstaltungen („Kochen gegen Aids“, „Kochen gegen Rechts“) am grossen Benefizkuchen mit.

„Wer aufgrund des Namens glaubt, uns ginge es darum, Terrorismus zu verherrlichen, irrt!“, sehen sich die beiden Chefköche auf ihrer Homepage mittlerweile zu schreiben veranlasst. Die Marke ist inzwischen beim Patentamt in München angemeldet, „wir haben jetzt den Bundesadler und das RGF-Logo auf einer Urkunde“, verrät Jörg, der auch gleich noch mit ein paar Vorurteilen aufräumen will: „Eine Band wie die Hosen, die seit 20 Jahren unterwegs ist, feiert natürlich auch mal ihre Feste. Ein Musiker auf Tour muss aber auch ein bisschen gesund leben, mit hin und wieder leichter Kost, ein bisschen Sport und ein paar Vitaminen.“

So sieht die Sache also aus. Etwas von allem: ein bisschen Horrorshow, Sentimentalitäten aus der Zeit, als der Terror noch der eigene war, hin und wieder leichte Kost und auf Wunsch auch Vegetarisches.

Ole Plogstedt, Jörg Raufeisen, Kochen für Rockstars, Kiepenheuer & Witsch, 17.70 Fr.

Der Text ist im "Loop" erschienen.

Der längste Tag



Der König ist tot, lang lebe der König. Der letzte Tag, das letzte Konzert und die letzten Tabletten einer Rock’n’Roll-Legende. Eine Chronik.

von Martin Söhnlein

Als Elvis Presley am 15. August 1977 von einem Zahnarztbesuch nach Graceland zurückkehrte, scheint er guter Dinge zu sein. Ein letztes Foto zeigt ihn milde lächelnd. Der King sitzt am Steuer seines Wagens und sieht so schlecht nicht aus: wie der späte Elvis eben, übergewichtig, mit Monsterkoteletten, dunkler Sonnenbrille, Trainingsanzug. Ein Monument. „Das wird die beste Tournee meines Lebens“, prophezeit er noch am selben Tag - doch da wirken vermutlich bereits die Tabletten, die ihm sein Zahnarzt mit auf den Weg gegeben hat. Zu wenig, wie es scheint, denn in der Nacht auf den 16. August plagen Elvis erneut Schmerzen. Er schickt seinen Stiefbruder Rick in die Nachtapotheke, weckt seinen Cousin Billy und dessen Frau Jo, um eine Runde Raquetball zu spielen. Er verletzt sich dabei mit dem Schläger am Bein, setzt sich ans Klavier und stimmt ein paar Gospellieder an.

Gegen fünf Uhr früh zieht er sich zusammen mit seiner Freundin Ginger Alden in die Schlafgemächer zurück. Er nimmt die tägliche Dosis Pillen zu sich, die ihm sein Hausarzt verschrieben hat, kann aber nicht einschlafen. Um sieben Uhr wirft er noch einmal die gleiche Menge ein. Um acht Uhr ist er immer noch wach. Er öffnet eine neue Packung. Um halb zehn nimmt er das Buch „The Scientific Search for the Face of Jesus“ und geht damit ins Badezimmer. „Aber schlaf dort nicht ein“, murmelt Ginger im Halbschlaf. „Das werd ich nicht“, verspricht der König des Rock’n’Roll. Das sollten seine – allerdings wenig berühmten - letzten Worte sein.

Elvis hasste die Drogen, aber er liebte die Medikamente. Über 10'000 Rezepte soll ihm sein Hausarzt George „Dr. Nick“ Nichopoulos in den vergangenen sechs Monaten ausgestellt haben. Presley hielt sich dabei an keine Packungsbeilage, sondern schwor auf die Kombination aus Schmerz-, Beruhigungs-, Aufputsch- und Schlafmitteln. Darunter litten auch seine späten öffentliche Auftritte. Niemand wollte den King so sehen, wie er sich am 26. Juni 1977 in Indianapolis präsentierte: nicht wirklich fett, sondern regelrecht aufgedunsen, krank, in Gestus und Habitus zutiefst verunsichert.

Gekommen sind aber natürlich trotzdem alle. Viele, die damals Elvis Presley zujubelten, gratulierten sich damit vor allem selbst dazu, die überlebensgrosse Legende endlich leibhaftig zu Gesicht zu bekommen. Und vieles von dem, was sich während der Konzerte abspielte - das Kreischen der Damen, die Zwischenrufe der Männer, das Buhlen um die intoxinierten Schweisstücher – war längst ritualisiert. Schwer zu sagen, ob die seltsamen Ansagen und flapsigen Zwischenbemerkungen des Sängers auch zur Inszenierung gehörten oder sogar von Selbstironie zeugten. Das schiefe Lächeln von Elvis konnte ja immer zweierlei bedeuten; es wirkte provozierend und peinlich berührt zugleich.

Doch Elvis ist nicht mehr der Adonis, der einst über sich sagte, er könne nicht singen, wenn er sich nicht dazu bewegen dürfe. Der 42-Jährige wirkt bereits nach der kurzen Jogging-Strecke auf die Bühne müde, bekundet Mühe, beide Arme in die Luft zu heben, belässt es dann bei einem. Und das zu „Also sprach Zarathustra“. Die Band geht nahtlos in „See See Rider“ und spielt um ihr Leben. Sobald sich Elvis die Gitarre umgehängt hat, fühlt er sich sicherer, doch er klopft immer noch nervös mit den Fingern auf das Mikrofon und macht zwischen den Zeilen Faxen. Schliesst man als Zuhörer allerdings die Augen, so tut sich Wundersames auf. Elvis’ Stimme hat kaum an Souveränität eingebüsst, Timing und Intonation sind nach wie vor eine Klasse für sich, ja, womit möchte man sie denn auch vergleichen?

Das Programm ist gespickt mit Klassikern: „Jailhouse Rock“, „Teddy Bear“, „Hound Dog“ und „Can’t Falling in Love“, doch es ist vor allem das „Oh Sole Mio/ It’s Now or Never“-Medley, das der Meister, sich selbst am Piano begleitend, alleine vorträgt und einfach nur herzerweichend ist. Die Zeit, das wird bei diesem Song klar, läuft gegen Elvis. Der Entertainer bedankt sich brav beim Publikum, stellt buchstäblich jeden, der irgendwie an der Tournee beteiligt war, einzeln vor und macht sich zum Clown („Was haben wir heute für einen Tag? Montag? Dienstag? Samstag?“).

Konzertbesucher wollen beobachtet haben, dass der King niedergeschlagener als sonst wirkte, doch keiner der 18'000 Zuschauer dachte an diesem Abend daran, dass es sich um den letzten öffentlichen Auftritt des unsterblichen Elvis Presley handeln könnte. Der Sänger wird von seinen Leibwächtern mehr abgeführt als hinausbegleitet. Nachdem sie ihn in seinen Wagen bugsiert haben, darf der Stadionsprecher seinen Satz sagen: „Ladies and Gentlemen, Elvis has left the building.“

Ginger Alden erwacht am Nachmittag des 16. August gegen halb zwei. Elvis ist immer noch nicht im Bett. Sie öffnet die Tür des Badezimmers und sieht den Sänger reglos vor der Toilette in einer Lache aus Erbrochenem liegen. Sie ruft um Hilfe, zwei Mitarbeiter eilen herbei. Diese benachrichtigen in ihrer Panik die Feuerwehr, die ihrerseits einen Ambulanzwagen schickt. Elvis’ neunjährige Tochter Lisa und Vater Vernon kommen hinzu. Elvis wird um vier Minuten vor drei ins Baptist Medical Center in Memphis eingeliefert. Um Punkt drei wird Elvis Aron Presley, der Erfinder des Elvis-Toasts und grösster Entertainer des 20. Jahrhunderts, für tot erklärt.