Die Rockfabrik
Der Kampf der Roten Fabrik um Akzeptanz ist seit ihren Anfängen eng mit dem Kampf für die Akzeptanz von innovativer Rockmusik verbunden. Beides ist heute selbstverständlich – mit letzterem lässt sich mittlerweile sogar richtig Geld verdienen.
„Es ist ein Skandal, dass die Stadt Zürich das Opernhaus mit 84 Franken pro Sitzplatz subventioniert, für Rockkonzerte in der Roten Fabrik aber angeblich kein Geld hat“, meldete sich ein empörter Jungsozialist während einer Podiumsdiskussion im Juni 1980 zu Wort. Mit der Frage, ob die Musik Bob Marleys tatsächlich als Kultur einzustufen sei, hatte Stadtpräsident Sigi Widmer Wochen zuvor die Stimmung zusätzlich angeheizt. Der Rest der Argumente ging in den Protestrufen unter - und als „Opernkrawalle“ in die Geschichte ein.
Für Spätgeborene dürfte es interessant sein zu erfahren, dass die Rote Fabrik damals zwar mit einem zweitägigen „Grossen Fest“ (unter anderem mit Sperma, Mother’s Ruin und Liliput) ihren Konzertbetrieb aufnahm, sich aber schon bald szeneinterne Querelen abzuzeichnen begangen. Insbesondere wurde die Konsumhaltung kritisiert: Den kulturellen Freiraum hatte man sich zu hart erkämpft, um ihn nun einfach dosenbiertrinkenden Wochendpunks und dauerkiffenden Mittelschulhippies zu überlassen. Die aktive Teilnahme an Arbeitsgruppen in den Sparten Theater, Literatur, Kunst, Film und Video war ausdrücklich erwünscht, doch bereits 1983 machte der „Tell“ unter dem Titel „Erfolg mit Monokultur“ eine zunehmende Vormachtstellung der Musik aus.
Rock wurde bereits damals auch im Volkshaus oder im Hallenstadion abgehandelt, gleichzeitig sah sich die Betriebsgruppe der Roten Fabrik immer mehr zum Serviceteam für gesellige Konzertabende degradiert. Zu allem Überfluss drohte auch noch ein Teil der Bohème in die neu entstandene Abbruchhausszene abzuwandern. „Was ist da eigentlich los?“, ereiferte sich 1987 der „Alpenzeiger“ nach einem schlecht besuchten Konzert von Jonathan Richman. „Sind eigentlich alle gerade beim Theaterproben, beim Hodenbaden oder im Kino? Es gibt keine andere Stadt in Mitteleuropa, in der eine einst rebellische Szene dermassen schnell ihre Würde, ihr Gesicht und ihren spröden Charme verloren hat."
Der wüsten Analyse lag offenbar ein schmerzhafter Abnablungsprozess zu Grunde, dennoch oder gerade deshalb entwickelte sich die Rote Fabrik in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Konzertveranstalter der Schweiz. Besonders, was die so genannte alternative Rockmusik anging. Von Hüsker Dü über Sonic Youth, Pixies, den Red Hot Chili Peppers bis hin zu Nirvana trat in der Aktionshalle alles auf, was auf einem repräsentativen 90er-Rocksampler nicht fehlen darf, und zwar, und das schien doch irgendwie der Witz, zumeist bevor die Künstler den kommerziellen Durchbruch schafften. Das Programm der Ziischtigmusig war von ähnlicher Qualität und die Rote Fabrik für ein paar Jahre ein Synonym für eine bestimmte Spielart des Rock: hart, einigermassen originell, immer sehr laut und meistens sehr schön.
Dann kam die Wohlgroth, dann kam Seattle, dann kam Kaufleuten, dann kam Techno und Hip-Hop war ja schon da. Doch es kam vor allem eine neue Generation von Jugendbewegten: Das Entweder-Oder der Achtziger wurde abgelöst vom Sowohl-als-Auch der Neunziger. Der Fall der Mauer hatte in Europa offenbar ein grosses Partybedürfnis ausgelöst. Das Big Cat Festival in der Roten Fabrik markierte gewissermassen eine Zäsur. Von nun an fand alles irgendwo statt. Sonic Youth spielten jetzt plötzlich im Volkshaus und Pavement verabschiedeten sich von ihren Fans am Ende des Jahrzehnts im X-tra.
Es ergaben sich jede Menge neuer Nischen und die Karten wurden unter Zürichs Konzert- und Partyveranstaltern neu verteilt. Das Abart öffnete 1997 seine Türen und wirbt heute noch mit dem Vorzug, „Zürichs Alternative zu den technoiden Dance Clubs“ zu sein. Die Abgrenzung dient dabei in erster Linie der Positionierung. Von Nik Kershaw über Echt bis hin zu Newcomerwettbewerben und albernen Cover-Bands fand dort bereits vieles Platz. Andererseits leistet der Club – wie auch in jüngerer Zeit das Mascotte, das Helsinki, die Zukunft und seit Äonen das El Lokal - immer wieder Bemerkenswertes, beweist viel Gespür für Trends in der Rockmusik und brachte zum Beispiel Bands wie Franz Ferdinand gleich zweimal nach Zürich - beziehungsweise Winterthur.
Dass dabei die Alternative von gestern unter veränderten Bedingungen immer auch der Mainstream von morgen sein kann, liegt in der Natur der Sache. Während sich in den Achtzigern die Rote Fabrik noch für eine aktive „Befreiung der Rockmusik aus dem Würgegriff des Kommerz“ (Chris Cutler) aussprach, bekundet sie heute eher Mühe damit, im globalisierten Markt überhaupt noch mitbieten zu können. In gewisser Weise sind ihr da durch ihre Geschichte, die städtischen Subventionen und den daran geknüpften Ethos – die Eintrittspreise sollten eine gewisse Höhe nicht überschreiten - die Hände gebunden. Andrerseits kann es auch nicht Aufgabe des Musikbüros sein, das im Moment ohnehin gut gedeihende Feld der Rockkonzerte unnötig zu bewässern.
Falls man nun aber die Prognose, mit dem Verschwinden des physischen Tonträgers würde die Tourneen für die Künstler an kommerzieller Bedeutung gewinnen, ernst nimmt, so dürfte sich im Veranstaltungsbereich in naher und ferner Zukunft einiges bewegen. Wenngleich noch völlig unklar ist, wer dieser Flut von Konzerten eigentlich beiwohnen soll.
Fest steht, dass die Rote Fabrik den heutigen kommerziellen Veranstaltern von Rockkonzerten in gewisser Weise den Weg geebnet hat. Fest steht aber auch, dass es längst auch innerhalb des Mainstreams Experten gibt, die ihr Handwerk verstehen. „Vor 20 Jahren waren diese Künste und ihre Millieus noch aus der Mainstream ausgeschlossen, weswegen man sie noch leichter für kontrovers halten konnte“, merkte Diedrich Diederichsen kürzlich in einem Interview kritisch an.
Dem unbekannten Jungsozialisten sei versichert, dass sich die Situation inzwischen leicht zu Gunsten der Roten Fabrik verbessert hat. Für die Rockmusik aber sorgt heute – wie wohl schon damals – der Markt. Oder um es mit Stephan Gregory zu sagen: Die "Klugheit" eines Systems bestimmt sich dadurch, wie weit es in der Lage ist, von den Tendenzen Gebrauch zu machen, die es negieren.