Montag, 1. Oktober 2007

Hamburger Schule



Es ist egal, aber: Was macht eigentlich die Hamburger Schule? Während die Goldenen Zitronen weiterhin gegen Windmühlen anrennen, haben sich Blumfeld diesen Frühling aufgelöst. Tocotronic besingen die „Kapitulation“ - doch was genau meinen sie damit?

von Martin Söhnlein

Auch wenn sich die Popmusik derzeit nicht gerade auf dem Höhepunkt ihres schöpferischen Schaffens befindet, als Resonanzkörper gesellschaftlicher Zustände bleibt sie weiterhin relevant. Sie tut ja eigentlich immer nur das eine: private und/oder allgemeine Befindlichkeiten in Geräusche, Töne und Sprache zu übersetzen - und zwar möglichst wahr, irritierend und aufregend. Handelt es sich dabei um die Befindlichkeit vieler, fischt sie im Mainstream, falls nicht, stochert sie mit Vorliebe in den unterirdischen Kanälen jener fünfprozentiger Minderheit, die sich die Welt auch anders vorstellen kann, als wie sie sich gerade präsentiert.

Dass hierbei den Lyrics eine besondere Bedeutung zukommt, ist klar. Ebenso folgerichtig ist, dass nach Reiser, Lindenberg, Westernhagen, Grönemeyer und Kuntze eine neue Generation von deutschsprachigen Musikern versuchte, der hassgeliebten Sprache brauchbare Songtexte abzutrotzen – und zwar abseits der dem Blödeltum anheimgefallenen NDW. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie anmassend und vergeblich dieser Versuch damals anmutete. Blumfeld schafften es als Erste und zwar mit einem smarten Kunstgriff, der Collage. Ein Schwall von ineinander fliessenden Zitaten ergiesst sich aus dem 94er-Album „L’état et moi“. Und dazu die Musik: aufbrausend, aufwühlend, mitreissend, ein Strom für sich.

Menschen, die sich gerne mit der Radikalität anderer schmücken, wandten sich spätestens nach „Jenseits von Jedem“ (2003) enttäuscht von Blumfeld ab. Diese seien jetzt nicht mehr cool, sondern im Gegenteil: Schlager. Seither muss Sänger Jochen Distelmeyer bei jeder Gelegenheit erklären, ob die Texte und die Musik nun ironisch gemeint seien und ob man denn überhaupt von Füchsen, Schmetterlingen, von Tieren ganz allgemein singen dürfe. Geht es um Deutschland, ist offenbar nicht nur die Sprache eine schwere; die Deutungen wiegen nicht minder.

Blumfeld werden gerne als Mitbegründer der Hamburger Schule bezeichnet, die tatsächlichen Urväter aber sind Die Goldenen Zitronen. Mitte der Achtzigerjahre, als Fun-Punk noch kein Schimpfwort war, landete die Band um Schorsch Kamerun und Ted Gaier mit „Am Tag als Thomas Anders starb“ und „Für immer Punk“ mittlere Szenehits. Im Gegensatz zu den Toten Hosen wandelte sich die Gruppe in der Folge zum Guten hin, verfeinerte ihr Credo („Gegen den Alltagsstumpfsinn“) zusehends und wurde vor allem auch musikalisch immer interessanter. Ihr ungeheuer dichtes aktuelles Album „Lenin“ ist geradezu perfekt: Schierer Agitations-Pop, Anti-Rock, der immer leicht verhalten wirkt, dafür aber umso bedrohlicher in Richtung Zuhörer rollt. Der Immigrations-Song „Wenn ich ein Turnschuh wär“, die Spokenword-Hasstirade „Mila“ und das fiese „Lied der Stimmungshochhalter“ sind ebenso komplexe wie präzise Beschreibungen von äusseren und inneren Zuständen, die zu beschreiben sich neuerdings niemand mehr für zuständig hält. Es liege an dem „Fluch der guten Tat“, schreibt ein TAZ-Redaktor, dass das Album nicht die Afmerksamkeit erhalten habe, die dem Werk gebühre - aber von den Goldenen Zitronen werde halt nichts weniger als Herausragendes erwartet.

„Ich kann nicht mehr“ zitiert Schorsch Kamerun in „Mila“ den Buchtitel eines Freundes. Dem stellt das Hamburger Trio Tocotronic ein distinguiertes „Ich würde lieber nicht“ entgegen. Der Satz, der schon seit einer Weile in der deutschen Kunstszene zirkuliert, formuliert gewissermassen ein neues Unbehagen - wenn auch nicht mehr. Denn Tocotronic wollten zum Beispiel auch lieber nicht mehr mit ihrem langjährigen Partner L’Age D’Or zusammenarbeiten. Das Label, das wie kein anderes für die Hamburger Musikszene steht, ist kürzlich haarscharf an einer Insolvenz vorbeigeschrammt, ohne dem Zugpferd Tocotronic sieht die Zukunft düster aus. „Wir sind fest davon ausgegangen, dass unsere Indie-Zusammenarbeit weitergeht, aber die Band wollte auf einmal doch lieber wieder Bauzaun-Plakatierung und so weiter“, zitiert der deutsche „Rolling Stone“ Label-Chef Carol von Rautenkranz.

Und während dieser seinen Beruf wieder zum Hobby machen darf, meditiert Sänger Dirk von Lowtzow im Feuilleton über den obigen Satz von Peter Hein: „Diese Reaktion auf den Zwang zur Selbstoptimierung, auf diesen neoliberalen Imperativ, etwas aus sich zu machen und in Bewegung zu bleiben, kann ich sehr gut verstehen“, verrät er der „NZZ“. Alle wollen diesen Sommer wissen, was der 36-jährige ehemalige Kordhosenträger zu sagen hat, schliesslich heisst das neue Tocotronic-Album „Kapitulation“, was bei einer Band, die einst kam, um sich zu beschweren, erklärungsbedürftig erscheint. Der „Rolling Stone“ feierte die „wichtigste Band Deutschlands“ auf nicht weniger als sechzehn Seiten ab und bezeichnet „Digital ist besser“ (1995) als „das deutsche „Nevermind““.

An derlei Vereinahmungen dürfte sich das Quartett mittlerweile gewöhnt haben. Mit Textzeilen wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, „Ich verabscheue euch für eure Kleinkunst zutiefst“ oder „Aber hier leben, nein danke“ sprach Dirk von Lowtzow einer ganzen Generation von verunsicherten Indie-Nerds aus der Seele. Dabei positionierte sich die Band immer klar links, beteiligte sich an diversen Solidaritätsaktionen für alternative und antifaschistische Organisation und lehnte eine Auszeichnung des Musiksenders Viva in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ (sic!) mit der Begründung ab, weder auf das Jung- noch auf das Deutschsein besonders stolz zu sein, „…und auf dem Weg nach oben, na ja.“

Was sich in solchen Statements bereits abzeichnete, findet nun auf „Kapitulation“ in Albumlänge seine Entsprechung: „Und wenn du kurz davor bist, kurz vor dem Fall, und wenn du denkst, fuck it all, und wenn du nicht weisst, wie soll es weitergehen, Kapitulation“, heisst es im Titelsong. Die Verweigerungs- und Kriegsmetaphorik („Mein Ruin“, „Aus meiner Festung“, „Wehrlos“) durchzieht fast das ganze Werk und man spürt: Hier wird die Lust am Scheitern zelebriert. Was dabei vielleicht am meisten irritiert, ist, dass das Ganze ja gar nicht so neu und originell ist. Da schwingt etwas Punkattitüde, viel jugendlicher Nihilismus, vor allem aber eine gute Portion bürgerliche Melancholie mit. Die Routine, mit der von Lowtzow seine notabene immer noch sehr schönen Sätze abspult, stimmt ebenso skeptisch wie der Umstand, dass sich der Sänger selber seiner Sache nicht so sicher zu sein scheint: „Heute wird immer alles so alles bierernst interpretiert und kleingeredet – nach dem Motto: Was will uns der Autor damit sagen? Das finde ich stinklangweilig.“

Stinklangweilig wäre es allerdings, würden sich Tocotronic in Zukunft mit dem reinen Kokettieren zufrieden geben. Immerhin lässt sich aus „Kapitulation“ auch anderes heraushören: Betörende Popsongs wie „Wir sind viele“ mit Zeilen wie „Wer Ich sagt, hat noch nichts gesagt“ oder das an The Smith erinnernde „Imitationen“ („Dein schlimm ist mein ganz schlimm“). Im Benennen des nur schwer zu Benennenden sind Tocotronic immer noch grosse Meister. Schade nur, dass dabei alles so Element-of-Crime-mässig traurig sein muss. Begehren Text und Musik aber ausnahmsweise wirklich mal auf wie in „Sag alles ab“, klingen Tocotronic ziemlich exakt wie, ja, genau, Blumfeld. Fazit: Die Hamburger Schule lebt - und zwar in Berlin.

Tocotronic “Kapitulation” (Univseral). Die Goldenen Zitronen “Lenin” (RecRec).
Tocotronic live: 5. 10. Rote Fabrik, Zürich; 7. 10. Schürr, Luzern; 8. 10. Volkshaus, Basel.


Dieser Text ist in der aktuellen "Fabrikzeitung" erschienen.

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