Montag, 15. Oktober 2007

Hot Love

Vor einem Jahr hanebüchert sich ein um Aufmerksamkeit buhlender Song durch die tonangebenden Musikkanäle. “I Wish I Was a Punk Rocker (with Flowers in My Hair)“ lautet sein revisionistischer Titel und die Schottin Sandi Thom lässt darin Kraut und Rüben munter durcheinander wirbeln: „In 77 and 69 revolution was in the air (…) when music really mattered (…) when popstars still remaind a myth (…) and the media couldn’t buy your soul“. Derlei Plattitüden zeugen von einem Lebensgefühl, das mit Hinblick auf das Geburtsjahr von Sandi Thom - 1981 - bestenfalls als pränatale Nostalgie bezeichnet werden kann.

Denn obwohl gegen Letzteres nichts Grundsätzliches einzuwenden ist (gerade jüngere Menschen hegen bekanntlich mitunter den Wunsch, entweder gar nicht oder dann zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt geboren worden zu sein), geht es natürlich nicht an, die beiden Jahrzehnte popphänomenologisch in einen Topf zu werfen: Die Hippies standen für exquisite Drogen, für das Recht auf freie Liebe und gegen den Krieg ein. Die Punks hingegen beanspruchten billigen Fusel, das Recht auf Perspektivelosigkeit und waren gegen Hippies.

In der Schweiz traf dies ab Mitte der Siebziger zumindest theoretisch zu, denn wie Lurker Grand, Herausgeber von „Hot Love – Swiss Punk & Wave 1976 – 1980“ schreibt, hatten die 68-er bis dahin kaum Spuren hinterlassen. „Eine Veränderung der verkrusteten Gesellschaftsstruktur schien nirgends in Aussicht. Unruhige Zeitgeister und energiegeladene Teenager passten nicht ins Bild, sie störten die Idylle.“ Nicht durch „klare Überlegungen, vielmehr durch gebrochene Gefühle“ hätten die neuen Protestsongs aus New York und London ein auch in der Schweiz unter vielen Jugendlichen grassierendes schleichendes Unbehagen formuliert.

Lurker Grand spricht in diesem Zusammenhang von einem „Ausdruck tief enttäuschter Lebenslust“ – man könnte aber auch St. Gallen dazu sagen. „Es erstaunt nicht, dass die Anfänge der hiesigen Punkszene in den beiden urbanen Zentren Zürich und Genf entstanden sind“, räumt der Ostschweizer ein. Erst später hätten sich auch Szenen in Bern, Luzern, Biel, Basel, Lausanne oder eben St. Gallen entwickelt. Es solle aber nicht der Eindruck erweckt werden, es hätte sich dabei um eine Massenbewegung gehandelt: „Es war eine Antibewegung, die von einigen hundert Personen verkörpert wurde.“

Als Jungpunk beschaffte sich Lurker im St. Galler BRO Records die angesagten Punkscheiben und bastelte sich sein eigenes Outfit („hart und cool, grelle Farben und schwarzes Leder“). Dem ersten Punkfestival der Schweiz (am 1. Oktober 1977 mit The Clash im Zürcher Kaufleuten) wohnte er zwar aus nicht mehr rekonstruierbaren Gründen NICHT bei („das bereue ich bis heute“), dafür erlebte er im Frühling 1978 die Nasal Boys im Kongresshaus Schützengarten. „Ich ging als einsamer Wolf voll gestylt in Punkmontour dahin und war zuerst mal enttäuscht von dem Haufen Discofröschen, die dort herumlungerten.“ Das Konzert erwies sich dann aber als Offenbarung.

Später verschlug es Lurker nach Zürich, wo er im Jelmoli eine Lehre absolvierte, in der Feldstrasse ein Zimmer bezog und in den Gassen und Clubs die Zürcher Punks kennen lernte. Die Szene war inzwischen derart angewachsen, dass sie sich bereits im Auflösungsprozess befand. „Entweder verfolgte man seinen eigenen Weg in einem neuen Umfeld oder man schloss sich einer Gruppierung wie den Teds, Mods oder Skins an, bei denen das Individuelle grösstenteils verloren ging.“ Lurker pendelte zwischen Zürich und St. Gallen, wo er 1980 das „erste und bis heute einzige“ Punkfestival mit u.a Grauzone, Crazy und Chaos organisierte und zusammen mit Otto von Haschburg im Linsenbühlquartier einen Plattenladen eröffnete („die Droge Punkvinyl verkaufte sich kaum, doch wie schon Ottos Beiname andeutet, war der Umsatz am Abend trotzdem befriedigend“).

Als Lurker Grand am Abend des 30. Mai 1980 - kurz zuvor hatte er sich Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ angesehen - Richtung Limmatquai zusteuerte, wähnte er sich just in jenen Film versetzt. „Es lag ja schon länger Stunk in der Luft, nicht nur in Zürich. Auch in den anderen Städten wurden Kulturzentren und billiger Wohn- und Arbeitsraum gefordert“, kommentiert er leicht spröde die Anfänge der Jugendunruhen.

Tatsächlich markierte der Beginn der Zürcher Jugendunruhen das vorläufige Ende der Schweizer Punkgeneration: «Für diese erste Generation sucht man vergeblich nach einer politikbezogenen Motivation», kommen die Macher von «Hot Love» zum Schluss. Falls man überhaupt einen gemeinsamen Nenner erkennen könne, dann sei dies „der Überdruss an der Mainstream-Kultur, der Wunsch nach Neuem, Aufregenden, Lautem und Wilden.“

Auf insgesamt 324 Seiten kommen in „Hot Love“ eine Vielzahl der damaligen Protagonisten zu Wort. Zum Beispiel Sandro Sursock, der unter dem bezeichnenden Titel „Kill the Hippies“ von der frühen Punkszene in Genf berichtet („die Genfer Hippies, die auf Jazzrock standen, hassten uns, und wir verachteten sie“.) Oder Dieter Meier, der in einem Interview mit dem Fanzine „No Fun“ bereits 1978 die Oberflächlichkeit der Szene geisselte („ich verstehe unter Punk, wenn überhaupt irgendwas, einen individuellen Anarchismus, eine Auflehnung, eine Weigerung, die erst am äussersten Rand auch in der Kleidung in Erscheinung tritt“) Dazu Peter Fischli („als Punk kam, war das wie eine Erlösung“), Peter Preissle („der Wein ist im Kühlschrank. Welche Stücke nehmt ihr auf?“), Bob Fischer („bekanntlich ist Rock’n’Roll am 18. September 1970 gestorben, als Jimi Hendrix sich an seiner Kotze verschluckte“) und Noldi Meyer, der als sehr herziger 13-Jähriger zusammen mit der sehr coolen Blondie posiert. Überhaupt bietet der Band Bildmaterial in Hülle und Fülle: Fotos, Plakate, Flyer, Plattencover, Memos und Songmanuskripte in Originalversion. Sämtliche Texte und Bildlegenden sind übrigens auch ins Französische übersetzt.

Der Band bietet also Informationen im Überfluss. Nicht einfach, sich daraus ein stimmiges Bild zu machen. Als “oral“ beziehungsweise „visual history“ leistet das Werk allerdings wertvolle Dienste. Fazit: Gehört in jedes gutsortierte Klo – auch und gerade in dasjenige von Sandi Thom, die uns mit der Zeile “and when god saved the queen she turned a whiter shade of pale” ja fast schon wieder versöhnlich stimmt.

Lurker Grand (Hg.): Hot Love - Swiss Punk and Wave 1976-1980. Edition Patrick Frey. 324 S., Fr. 68.-.

Keine Kommentare: