Montag, 1. Oktober 2007

Der längste Tag



Der König ist tot, lang lebe der König. Der letzte Tag, das letzte Konzert und die letzten Tabletten einer Rock’n’Roll-Legende. Eine Chronik.

von Martin Söhnlein

Als Elvis Presley am 15. August 1977 von einem Zahnarztbesuch nach Graceland zurückkehrte, scheint er guter Dinge zu sein. Ein letztes Foto zeigt ihn milde lächelnd. Der King sitzt am Steuer seines Wagens und sieht so schlecht nicht aus: wie der späte Elvis eben, übergewichtig, mit Monsterkoteletten, dunkler Sonnenbrille, Trainingsanzug. Ein Monument. „Das wird die beste Tournee meines Lebens“, prophezeit er noch am selben Tag - doch da wirken vermutlich bereits die Tabletten, die ihm sein Zahnarzt mit auf den Weg gegeben hat. Zu wenig, wie es scheint, denn in der Nacht auf den 16. August plagen Elvis erneut Schmerzen. Er schickt seinen Stiefbruder Rick in die Nachtapotheke, weckt seinen Cousin Billy und dessen Frau Jo, um eine Runde Raquetball zu spielen. Er verletzt sich dabei mit dem Schläger am Bein, setzt sich ans Klavier und stimmt ein paar Gospellieder an.

Gegen fünf Uhr früh zieht er sich zusammen mit seiner Freundin Ginger Alden in die Schlafgemächer zurück. Er nimmt die tägliche Dosis Pillen zu sich, die ihm sein Hausarzt verschrieben hat, kann aber nicht einschlafen. Um sieben Uhr wirft er noch einmal die gleiche Menge ein. Um acht Uhr ist er immer noch wach. Er öffnet eine neue Packung. Um halb zehn nimmt er das Buch „The Scientific Search for the Face of Jesus“ und geht damit ins Badezimmer. „Aber schlaf dort nicht ein“, murmelt Ginger im Halbschlaf. „Das werd ich nicht“, verspricht der König des Rock’n’Roll. Das sollten seine – allerdings wenig berühmten - letzten Worte sein.

Elvis hasste die Drogen, aber er liebte die Medikamente. Über 10'000 Rezepte soll ihm sein Hausarzt George „Dr. Nick“ Nichopoulos in den vergangenen sechs Monaten ausgestellt haben. Presley hielt sich dabei an keine Packungsbeilage, sondern schwor auf die Kombination aus Schmerz-, Beruhigungs-, Aufputsch- und Schlafmitteln. Darunter litten auch seine späten öffentliche Auftritte. Niemand wollte den King so sehen, wie er sich am 26. Juni 1977 in Indianapolis präsentierte: nicht wirklich fett, sondern regelrecht aufgedunsen, krank, in Gestus und Habitus zutiefst verunsichert.

Gekommen sind aber natürlich trotzdem alle. Viele, die damals Elvis Presley zujubelten, gratulierten sich damit vor allem selbst dazu, die überlebensgrosse Legende endlich leibhaftig zu Gesicht zu bekommen. Und vieles von dem, was sich während der Konzerte abspielte - das Kreischen der Damen, die Zwischenrufe der Männer, das Buhlen um die intoxinierten Schweisstücher – war längst ritualisiert. Schwer zu sagen, ob die seltsamen Ansagen und flapsigen Zwischenbemerkungen des Sängers auch zur Inszenierung gehörten oder sogar von Selbstironie zeugten. Das schiefe Lächeln von Elvis konnte ja immer zweierlei bedeuten; es wirkte provozierend und peinlich berührt zugleich.

Doch Elvis ist nicht mehr der Adonis, der einst über sich sagte, er könne nicht singen, wenn er sich nicht dazu bewegen dürfe. Der 42-Jährige wirkt bereits nach der kurzen Jogging-Strecke auf die Bühne müde, bekundet Mühe, beide Arme in die Luft zu heben, belässt es dann bei einem. Und das zu „Also sprach Zarathustra“. Die Band geht nahtlos in „See See Rider“ und spielt um ihr Leben. Sobald sich Elvis die Gitarre umgehängt hat, fühlt er sich sicherer, doch er klopft immer noch nervös mit den Fingern auf das Mikrofon und macht zwischen den Zeilen Faxen. Schliesst man als Zuhörer allerdings die Augen, so tut sich Wundersames auf. Elvis’ Stimme hat kaum an Souveränität eingebüsst, Timing und Intonation sind nach wie vor eine Klasse für sich, ja, womit möchte man sie denn auch vergleichen?

Das Programm ist gespickt mit Klassikern: „Jailhouse Rock“, „Teddy Bear“, „Hound Dog“ und „Can’t Falling in Love“, doch es ist vor allem das „Oh Sole Mio/ It’s Now or Never“-Medley, das der Meister, sich selbst am Piano begleitend, alleine vorträgt und einfach nur herzerweichend ist. Die Zeit, das wird bei diesem Song klar, läuft gegen Elvis. Der Entertainer bedankt sich brav beim Publikum, stellt buchstäblich jeden, der irgendwie an der Tournee beteiligt war, einzeln vor und macht sich zum Clown („Was haben wir heute für einen Tag? Montag? Dienstag? Samstag?“).

Konzertbesucher wollen beobachtet haben, dass der King niedergeschlagener als sonst wirkte, doch keiner der 18'000 Zuschauer dachte an diesem Abend daran, dass es sich um den letzten öffentlichen Auftritt des unsterblichen Elvis Presley handeln könnte. Der Sänger wird von seinen Leibwächtern mehr abgeführt als hinausbegleitet. Nachdem sie ihn in seinen Wagen bugsiert haben, darf der Stadionsprecher seinen Satz sagen: „Ladies and Gentlemen, Elvis has left the building.“

Ginger Alden erwacht am Nachmittag des 16. August gegen halb zwei. Elvis ist immer noch nicht im Bett. Sie öffnet die Tür des Badezimmers und sieht den Sänger reglos vor der Toilette in einer Lache aus Erbrochenem liegen. Sie ruft um Hilfe, zwei Mitarbeiter eilen herbei. Diese benachrichtigen in ihrer Panik die Feuerwehr, die ihrerseits einen Ambulanzwagen schickt. Elvis’ neunjährige Tochter Lisa und Vater Vernon kommen hinzu. Elvis wird um vier Minuten vor drei ins Baptist Medical Center in Memphis eingeliefert. Um Punkt drei wird Elvis Aron Presley, der Erfinder des Elvis-Toasts und grösster Entertainer des 20. Jahrhunderts, für tot erklärt.

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